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  Ein hoher britischer Beamter erinnert uns an die vergessene Anthrax-Attacke

Glenn Greenwald

Großbritannien ist zur Zeit beschäftigt mit einer eingehenden umstrittenen Untersuchung der Frage, wie die Regierung dazu gekommen ist, die Invasion in den Irak zu unterstützen, wobei jede Menge Beweise dafür vorliegen, dass viel von dem, was damals von britischen und amerikanischen Politikern gesagt wurde, bewusst falsch war; vor allem in Hinblick auf die monatelange eindeutige Absicht der Regierung Bush, den Irak anzugreifen, während sie das Gegenteil vortäuschte. Gestern sagte der britische Botschafter in den Vereinigten Staten von Amerika in den Jahren 2002 und 2003, Sir Christopher Meyer (ein Befürworter des Krieges) vor dem Untersuchungsausschuss aus und sagte folgendes:

Meyer sagte, dass die Stimmung gegenüber dem Irak damals durch die Angst vor Anthrax (Milzbrand, eine gefährliche Infektionskrankheit, für deren Verbreitung „biologische“ Waffen produziert werden, d.Ü.) in den Vereinigten Staaten von Amerika kurz nach dem 9/11 in einem Ausmaß beeinflusst wurde, das er nicht für gut hielt. U.S.-Senatoren und anderen wurden damals Anthrax-Sporen mit der Post geschickt, ein Verbrechen, das zum Tod von fünf Menschen führte und von Politikern ausgenützt wurde, um Verbindungen zu Saddam Hussein zu behaupten ...

Am 9/11 sagte die damalige U.S.Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice zu Meyer, für sie gäbe es „keinen Zweifel: das war eine al-Qaida-Operation“ ... es schien, dass Paul Wolfowitz, Rumsfelds Stellvertreter, dafür plädierte, dass die Vergeltung Irak einschließen müsse, sagte Meyer ... 

Aber die Anthrax-Panikmache hatte die Politiker in der Regierung Bush “in Fahrt gebracht” und geholfen, die Stimmung gegen Saddam zu lenken, von dem die Regierung glaubte, er wäre der letzte gewesen, der Anthrax benutzt hätte.

Ich habe bisher viele Male darüber geschrieben, dass die Anthrax-Attacke eine Rolle spielte, die mindestens so groß war wie die Attacke am 9/11 selbst, wenn nicht größer, da sie das allgemeine Klima der Angst erzeugte, das jahrelang in den Vereinigten Staaten von Amerika herrschte, und besonders darüber, wie die Anthraxgeschichte von leitenden Medien und Politikern ausgenützt wurde, um eine intensive feindliche Haltung gegen den Irak aufzubauen (einige wenige andere haben ähnlich argumentiert). Deshalb ist es sehr verblüffend, wie wir kollektiv diese terroristische Attacke aus unserem Gedächtnis verdrängt haben, als hätte es sie nicht gegeben. Als Dana Perino in dieser Woche in Fox News damit angab, dass „wir in der Amtszeit von Präsident Bush keinen terroristischen Angriff auf unser Land hatten,“ bezog sich der größte Teil des folgenden Spotts auf die Attacke vom 9/11, während - wie immer – die Anthrax-Attacke ignoriert wurde. 

Besondere Bedeutung hat der Umstand, dass die Anthrax-Attacke ungelöst und nicht untersucht ist. Das FBI behauptete letztes Jahr, es hätte den Einzeltäter Bruce Ivins identifiziert, aber weil Ivins tot ist, nie die Möglichkeit – oder Verpflichtung – gehabt, diese Beschuldigung in einem aussagekräftigen Verfahren darzulegen. Die Sache gegen Ivins ist dermaßen durchsetzt mit logischen und beweisrelevanten Löchern, sie dass extreme Zweifel nicht nur bei den üblichen regierungskritischen Skeptikern, sondern in den meisten gesellschaftlich etablierten und ideologisch unterschiedlichen Kreisen hervorrief. Man nehme nur einige der Medien und Personen, die eindeutig erklärt haben, dass die Sache FBI gegen Ivins keineswegs überzeugend ist und einer sinnvollen Untersuchung bedarf: Leitartikel in der Washington Post, Leitartikel in der New York Times, Leitartikel im Wall Street Journal, das Wissenschaftsmagazin Nature, die Senatoren Pat Leahy, Arlen Specter und Charles Grassley, den Arzt und Kongressabgeordneten Rush Holt, in dessen Bezirk in New Jersey die Anthrax-Briefe verschickt wurden, Dr. Alan Pearson, Direktor des Kontrollprogramms für biologische und chemische Waffen am Zentrum für Waffenkontrolle und Nicht-Weitergabe, und eine große Anzahl von Wissenschaftern und Rechtsexperten in diesem Bereich.   

Wir haben es hier mindestens mit einem der folgenreichsten politischen Ereignisse des vergangenen Jahrzehnts zu tun – einem tödlichen terroristischen Angriff gegen bedeutende Senatoren und Medienleute mit biologischen Waffen, von denen sogar das FBI behauptet, dass sie aus einem Militärlabor der Vereinigten Staaten von Amerika stammen. Der damalige britische Botschafter in den Vereinigten Staaten von Amerika sagt jetzt aus, was lange klar war: dass diese Episode eine große Rolle dabei spielte, den Überfall auf den Irak zu ermöglichen. Sogar unsere führenden regierungstreuen Massenmedien – und ungezählte Experten für biologische Waffen – glauben, dass wir keine wirklichen Antworten haben, wer diese Attacke durchgeführt hat und wie. Offenkundig besteht wenig Interesse, das herauszufinden. Augenscheinlich ist das wieder eine jener Angelegenheiten, die wir der „unwichtigen Vergangenheit“ zurechnen und es nicht der Mühe wert finden, ihr die Aufmerksamkeit unseres zukunftsgeblendeten, immer abgelenkten Denkens zuzuwenden.

P.S.: Marcy Wheeler bemerkt, dass das FBI immer aufsässiger wird gegenüber Ansinnen, seine Behauptungen sollten durch eine unabhängige Kommission untersucht werden; das kann natürlich nur geschehen, wenn Weißes Haus und Kongress es erlauben.

 
     
  erschienen am 27. November 2009 in > Salon.com > http://www.salon.com/news/opinion/glenn_greenwald/2009/11/27/anthrax/index.html      
     
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