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  Unüberwindbare Distanz: Die Entscheidung zu töten

Chris Floyd

Ich beobachtete sie, wie sie in Richtung Grenze marschierten. Eine Reihe nach der anderen in der heißen, gleißenden Sonne. Sie marschierten ohne Gewehre, ohne Panzer und Raketen – obwohl einige, wie der Hirtenbub David, ein paar Steine aufhoben, um sie in den unüberwindbaren Zwischenraum zu werfen.

Ich beobachtete, wie sie den grünen Hügel herab strömten zu den Haufen aus Erde und Draht. Ich sah sie, Alte und Junge, in Richtung des okkupierten Landes gehen. Ich sah, wie sie näher kamen – nahe genug für die schwer bewaffnete Okkupationsmacht, sie in Reichweite zu haben.

Aus der Entfernung – hinter dem Stacheldraht, mit den Okkupationstruppen, wo die Kameras, die den Schauplatz erfassten, bereit standen – hörte ich das dumpfe Knallen der Gewehre, die abgefeuert wurden. Ich sah, wie die Demonstranten weiter den Hügel herab strömten, obwohl sich die erste Linie in Chaos auflöste. Ich hörte wieder die Gewehre. Ich sah, wie einige Demonstranten fielen, andere zurück drängten, und immer mehr herab kamen.

Wieder Schüsse. Dumpfes Knallen, abgesetzt, sorgfältig. Die Kugeln pfiffen über die Distanz, die unüberwindbare Distanz, die kein Stein überwinden konnte. Die Kugeln warfen Erde hoch, sie schlugen in Fleisch. Ich sah Körper, die sich drehten und zusammenbrachen. Die Demonstration wurde zum Rettungseinsatz. Die Toten und Verletzten wurden auf Decken und Bahren gehoben, während die Kugeln weiter heranpfiffen: dumpf, abgesetzt, sorgfältig.

Schließlich, als viele tot, viele verletzt in der gleißenden, heißen Sonne lagen, schließlich sah ich aus der Entfernung, hinter dem Stacheldraht und den heißgeschossenen Waffen, die Kanister mit Tränengas durch die Luft fliegen, Rauchwolken hinter sich herziehend. Sie landeten auf der Erde und auf dem grünen Gras und spuckten ihren schmerzhaften unwiderstehlichen Nebel aus.

Jetzt, endlich, kehrten die Demonstranten – die weiterhin in den Bereich der Kugeln gekommen waren – um und flüchteten. Die Toten, Sterbenden und Blutenden mit sich schleppend rannten sie zurück den grünen Hügel hinauf.

Dann ein unvermittelter Szenenwechsel in ein anonymes Regierungsbüro, wo eine gutaussehende junge Sprecherin in frischem Englisch mit amerikanischem Akzent erklärte, dass diese unbewaffneten Demonstranten in der heißen gleißenden Sonne eine dermaßen überwältigende Bedrohung für die schwer bewaffneten Okkupationskräfte hinter den Stacheldrahtbarrikaden darstellten, dass diese keine Alternative, keine andere Wahl hatten, als das Feuer über die Distanz zu eröffnen, die kein Stein überwinden konnte, in die unbewaffnete Menge zu schießen, wieder und wieder zu schießen, zu beobachten, wie sie sich drehten und auf den Erdhaufen zusammenbrachen. Keine Wahl. Keine Alternative.

Ihr Auftritt auf dem Bildschirm dauerte fast so lange wie die Zeit, die den Demonstranten und ihren Toten gewidmet war. Der Reporter, der nahe der Grenze stand, hinter dem Stacheldraht, der alles mit seinen eigenen Augen gesehen hatte, beendete seinen Auftritt pflichtgemäß mit geopolitischem Sprech – die eine Seite sagt dies, die andere sagt das, hinter jeder öffentlichen Äußerung stecken Absichten und Machenschaften. Aber sogar wenn das alles so ist, konnte nicht einmal er – als er sprach, während die Demonstranten vor den giftigen Wolken flüchteten – konnte nicht einmal er die naheliegende Frage vermeiden: Warum das Tränengas erst zuletzt einsetzen? Warum zuerst schießen? Warum auf die Menschen schießen, auf die unbewaffneten Demonstranten, und diese töten, wenn man reichlich mit den bewährten Mitteln ausgestattet ist, um diese ohne Tod und Blut auseinanderzutreiben?

Es sieht so aus, als wäre die Okkupationsmacht vor einer Wahl gestanden. Und sie hat sich entschieden. Die Entscheidung war zu töten, mit Tod und Blut über die unüberwindbare Distanz hinweg zu sprechen.

 
     
  Erschienen am 6. Juni 2011 auf > Empire Burlesque > Artikel  
     
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