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  Israel zwischen Eritrea und Iran

Ran HaCohen 

Wenn es Ahmadinejad nicht gäbe, dann würde Israel ihn erfinden. Dank Israels Gangsterrhetorik („Haltet mich zurück, sonst schieße ich!“) richtet sich die internationale Aufmerksamkeit auf die brutale Moslemdiktatur im Iran und ermöglicht Israel, sich still und heimlich selbst in eine brutale jüdische Diktatur zu verwandeln. Israels Zurückdrängung der Demokratie schreitet Tag für Tag fort: Netanyahu führt ein faschistisches, rassistisches Orchester, in dem die vier Hauptakteure ihre Differenzen beiseite legen und kooperieren, um Israel nach ihrem jeweiligen Traum zu gestalten, der unser aller Alptraum ist. Verteidigungsminister Baraks Vision ist die einer militaristischen Diktatur, die die ethnisch gesäuberten Palästinensergebiete beherrscht, Außenminister Avigdor Liebermann träumt von einer Autokratie im Stil Putins; Innenminister Eli Yishai führt eine jüdische Variante einer Moslembruderschaft-Gesellschaft ein; und „Justiz“minister Ne’eman – dem Großen Geld, Liebermans Autoritarismus und Yishais Klerikalismus gleichermaßen verbunden – betreibt insgeheim die Zerstörung des Systems der unabhängigen Justiz und die Formalisierung des gesetzlichen Rahmens für den Faschismus in Israel. Mit einigen weiteren lautstarken Helfern – wie dem Erziehungsminister Gideon Sa’ar, der an der Indoktrinierung der Schulkinder und an der Zerstörung der akademischen Freiheit arbeitet – orchestriert Netanyahu einen „Israelischen Frühling,“ oder eher einen „Jüdischen Herbst,“ indem er ein neues Israel schafft, das beängstigende Züge von gewissen Gesellschaftssystemen in Vergangenheit und Gegenwart aufweist, die berüchtigt waren für die Verfolgung von Minderheiten, jüdischen oder anderen.

Afrikaner als Opfer

„Eine Gesellschaft wird danach beurteilt, wie sie ihre schwächsten Mitglieder behandelt.“ – Harry S. Truman

Vor kurzem zeigte CNN die erschreckende Geschichte von Tegisti Tekla, einer jungen Frau aus Eritrea, die von beduinischen Schleppern in der ägyptischen Sinaiwüste gefoltert und vergewaltigt wurde. Tegisti gelang es, Israel zu erreichen, wo sie sich jetzt in einem Wohnheim in Tel Aviv befindet und von einer Abtreibung erholt. 

Tegisti hatte relativ viel Glück. Offensichtlich mehr Glück als die 18 Asylsuchenden, welche israelische Soldaten am Grenzzaun hungern ließen, ehe sie sie gewaltsam zurück nach Ägypten stießen, aber auch mehr Glück als ihre Landsmännin „Zebib“ (Geschichte auf Hebräisch). Zebib wurde entführt auf ihrem Weg nach Sudan, wo sie ihren Mann treffen sollte, der von der eriträischen „Armee“ (das heißt von lebenslänglicher Zwangsarbeit) desertiert war. Im Gegensatz zu Tegisti wurde sie nicht vergewaltigt: um die Erpressung eines Lösegelds zu fördern, hielten sich ihre Entführer an ihr 15 Monate altes Kind. Ihre Familie in Eritrea verkaufte ihren gesamten Besitz, um die $25.000 Lösegeld aufzubringen, und Zebib wurde freigelassen und schaffte es nach Israel zu kommen, wo ihr ausgehungertes Kind zur Rehabilitation ins Krankenhaus kam. Aber während Tegisti sich jetzt in Tel Aviv in Freiheit befindet, wurden Zebib und ihr Baby für drei Jahre ins Gefängnis gesteckt, ohne jede Anklage und ohne ein gerichtliches Verfahren.  

Die Flüchtlingskonvention der UNO (welche Israel unterzeichnet hat) fordert, dass 

Mitgliedsstaaten keine Strafen verhängen sollen wegen illegalen Grenzübertritts oder illegalen Aufenthalts gegen Flüchtlinge, die direkt aus einem Gebiet kommen, in dem ihr Leben oder ihre Freiheit bedroht waren ... ohne Genehmigung ihr Territorium betreten oder sich dort aufhalten ...

Israel jedoch kümmert sich nicht um solche Lappalien. „Kein Geist von Genf in diesem Land,“ urteilt mild ein gut informierter ehemaliger kanadischer Asylrichter. Seit vergangenem Juni steckt Israel so genannte „Eindringlinge“ (das sind Menschen, die ohne Genehmigung nach Israel gekommen sind) automatisch für drei Jahre in Verwaltungshaft. 

Israels Neue Oase

„Konzentrationslager: ein bewachtes eingezäuntes Gelände für die Anhaltung oder Inhaftierung von Fremden, Mitgliedern ethnischer Minderheiten, politischen Gegnern, etc.“ – Random House Wörterbuch

Mit bitterer Ironie (eine notwendige Waffe des Selbstschutzes unter autoritären Regimes) traf Alon Idan von der Zeitung Ha’aretz den Nagel auf den Kopf, als er Israels Internierungslager beschrieb, das nahe der ägyptischen Grenze errichtet wurde (in der hebräischen Ausgabe vom 6. Juli): 

Vom höchsten Fenster aus betrachtet sieht es aus wie ein Konzentrationslager. Natürlich ist es kein Konzentrationslager. Vier Zeltreihen, umgeben von einem Zaun, 23 Personen pro Zelt, 3,94 m² pro Person, ein Waschraum pro zehn Personen. Es ist kein Konzentrationslager, es ist offensichtlich kein Konzentrationslager, aber vom höchsten Fenster sieht es aus wie ein Konzentrationslager. 

Mit bis zu 10.000 Asylsuchenden wird das israelische Lager das größte der Welt sein, es übertrumpft leicht das (jetzt geschlossene) Willacy Detention Center in Texas mit seiner Kapazität von 3.000. Idan übertreibt vielleicht: andere Berichte (in Hebräisch) sprechen von nur 2,5 m² pro Person (der Standard für israelische Gefangene beträgt 6,5 m²). Die exzellente Lage des Lagers – in der Nähe der ägyptischen Grenze „um Transportkosten zu sparen,“ eine Fahrstunde von der nächsten Stadt entfernt, 2,5 Stunden von Tel Aviv – sollte es weit aus den Augen, weit weg von den Herzen halten. NGOs wie die Hotline für Arbeitsmigranten haben bereits begonnen, Geld zu sammeln für Fahrten von Mitarbeitern und freiwilligen Helfern in den abgelegenen Ort in der Wüste. 

Dort zieht jetzt die 23 Jahre alte Zebib ihr kleines Kind auf, eingesperrt in einem Zelt in der unerträglichen Hitze der Wüste zusammen mit sechs weiteren Frauen und deren sechs Kindern. Dort ist auch eine weitere Landsmännin eingesperrt, die den israelischen Beamten ihre folgende Geschichte erzählte (hebräisch):

Ich bin 18 Jahre alt und alleinstehend. Ich beendete meine Schulbildung im Jahr 2011. Das erste Mal flüchtete ich 2011 in den Sudan, wurde aber deportiert. Auf diese Flucht hin kam ich in Eritrea acht Monate ins Gefängnis. Letzten Mai flüchtete ich erneut in den Sudan. Ich erfuhr schwere sexuelle Misshandlungen durch die Schlepper, die mich viele Male vergewaltigten. Zuerst ließen sie mich arbeiten, dann wurde ich vergewaltigt. Alle vergewaltigten mich. Ich wurde jeden Tag vergewaltigt. Ich werde nie die dreieinhalb Monate in Sinai vergessen. Meine Familie musste $30.000 an die Schlepper bezahlen, damit sie mich frei ließen. 

Diejenigen, die schon hier sind

Und das ist nicht alles. Es gibt etwa 60.000 afrikanische Asylwerber, die angekommen sind, bevor das Lager errichtet wurde, und die daher freigelassen wurden, um in Tel Aviv zu leben und ihr Glück zu finden (ohne Arbeitsgenehmigung, ohne jede Unterstützung und ohne medizinische Betreuung). Polizeirazzien und Massenverhaftungen auf den Straßen haben noch nicht begonnen (sie werden nach dem 15. Oktober erwartet) – obwohl einige Menschen in der Stadt verhaftet und eingesperrt worden sind – aber eine neue Bestimmung, die Ende September in Kraft tritt, besagt, dass Asylwerber, die „verdächtigt werden, gegen das Gesetz verstoßen zu haben, aber wegen fehlender Beweise nicht angeklagt wurden“ (in anderen Worten unschuldige Menschen) für unbefristete Zeit in Verwaltungshaft gehalten werden (Bericht hier in Hebräisch). Die Knesset hat zwar nicht eine geforderte Gesetzesänderung beschlossen, nach der jeder wegen eines Eigentumsdelikts beschuldigte „Eindringling“ zu lebenslänglich verurteilt werden soll, aber der „Justiz“minister Ne’eman hat jetzt doch eine Möglichkeit gefunden, unschuldige Afrikaner für immer ins Gefängnis zu stecken. „Wir werden den Eindringlingen das Leben schwer machen, bis sie freiwillig gehen,“ versprach der Innenminister Eli Yishai, dessen eigene Eltern jüdische Immigranten waren – oder „Flüchtlinge“, wie eine neue antipalästinensische Kampagne es haben will – aus Nordafrika.

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Wir haben jetzt einen neuen umfassenden Bericht über das Schlepperwesen in der Wüste Sinai. Die darin erwähnten Verbrechen und Grausamkeiten – begangen von ägyptischen Beduinen und ihren eritreischen, sudanesischen, palästinensischen und israelischen Komplizen – liegen jenseits jeder Vorstellung. Aufgrund dieses Berichts wissen wir jetzt auch, dass viele Afrikaner, die in Israel ankommen, in Sudan und Eritrea entführt worden sind und keine Absicht hatten, in erster Linie nach Israel zu kommen. Bis vor kurzem wurden Afrikaner, die auf diese Weise entführt und misshandelt worden waren, sowie diejenigen, die im jüdischen Staat einen zeitweiligen sicheren Zufluchtsort vor den Schrecken Afrikas zu finden hofften, wie auch andere Migranten, die „nur“ der wirtschaftlichen Notlage entkommen wollten, alle[?] in Tel Aviv auf die Straße gesetzt, jetzt werden sie jahrelang ohne gerichtliches Verfahren unbefristet eingesperrt. Israel behandelt ihre Asylanträge nicht, stellt ihren Status nicht fest und gewährt den wirklichen Flüchtlingen unter ihnen nicht ihre Rechte gemäß den internationalen Konventionen.

Erst vor wenigen Jahren machte Israel praktisch Schluss mit der Schleusung von osteuropäischen Frauen durch die Sinai mittels einer koordinierten Anstrengung von Gesetzgebung und Exekutive. Wenn Israel, anstatt Milliarden für Grenzzäune und Internierungslager auszugeben, sich mit der internationalen Gemeinschaft und mit seinen Nachbarn zusammengetan hätte, um den Menschenhandel auf der Sinai zu unterbinden, hätten die Grausamkeiten auf ein Minimum reduziert werden können. Anstatt die Quoten für Arbeitsmigranten aus Ostasien zu erhöhen (mehr dazu in meiner letzten Kolumne), sollte Israel die asylsuchenden Afrikaner beschäftigen, die schon da sind. Und überhaupt, noch vor jeder anderen Überlegung, muss Israel seine Tore öffnen, weit öffnen für alle, die behaupten, verfolgt zu werden, diese Behauptungen überprüfen und die Menschen entsprechend behandeln. Das ist das Mindeste, das gerade von dem Land gefordert werden muss, das mit dem Finger auf jedes Land zeigt, das sich gegenüber jüdischen Flüchtlingen vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg anders verhalten hat.

Israels derzeitige Politik gegenüber Asylsuchenden ist sowohl verbrecherisch als auch eine moralische Schande und belegt die ständig wachsende Verachtung von minimalen demokratischen Standards und Menschenrechten, die in der „freien Welt“ gelten, der anzugehören Israel behauptet.  

 
   
  erschienen am 5. Oktober 2012 auf > www.antiwar.com > Artikel  
  Archiv > Artikel von Ran HaCohen auf antikrieg.com  
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