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  Die Illusion von Sicherheit

Robert C. Koehler

 

„Bitte seien Sie sanft.”

Die Geschichte ist nur zu glaubhaft. Im Flughafen von Memphis löst ein verwirrter, nervöser Teenager den Alarm des Metalldetektors aus – wahrscheinlich weil sie Pailletten auf dem T-Shirt hat – und bekommt die Anweisung, in einen „sterilen Bereich“ zu kommen. Bewaffnete Beamte tauchen auf, um sie hinzubringen. Sie gerät in Panik.

Das geschah vor einem Jahr. Das Mädchen, damals 18, heißt Hannah Cohen. Sie flog – zumindest war das so gedacht – zurück nach Chattanooga mit ihrer Mutter Shirley Cohen, die gerade durch die Kontrolle gekommen war und auf Hannah wartete, als eine TSA-Horrorstory losbrach, wie aus der Klage ersichtlich ist, die die Familie vor kurzem einbrachte.

Dazu kommt noch: Hannah hatte gerade hinter sich gebracht, was die endgültige Behandlung eines Gehirntumors im St. Jude Children´s Research Hospital in Memphis sein sollte. Sie war in dieser Behandlung, seit sie zwei Jahre alt war. Die Behandlung – Bestrahlung und Chirurgie – beeinträchtigte ihre Funktionsfähigkeiten: „Der Gehirntumor hatte Hannah blind auf einem Auge, taub auf einem Ohr und teilweise gelähmt gemacht,“ so The Guardian. Als die Beamten ihre Arme packten, riss sich das Mädchen los und versuchte zu entkommen.

„Als sie sah, wie das Theater losging, humpelte Shirley“ – ihr Bein war gebrochen – „zu einem in der Nähe stehenden Aufsichtsbeamten,“ fährt der Guardian fort. „‚Sie ist eine Patientin von St. Jude`s und kann verwirrt werden,’ sagte sie (Shirley). ‚Bitte gehen Sie sanft mir ihr um. Wenn ich ihr nur helfen könnte, wäre alles viel leichter.’“

Stattdessen warfen die Beamten Hannah auf den Boden und zerschlugen ihr Gesicht. Alles, was ihre Mutter letztlich tun konnte, war ein Foto zu machen. Das Mädchen wurde fortgezerrt – ins Gefängnis. Mutter und Tochter wurden 24 Stunden lang getrennt. Hannah landete endlich vor einem Richter. Die Anklagen gegen sie wurden fallengelassen.

Ein Jahr danach brachte die Familie eine Klage bei Gericht ein.

Vielleicht steckt mehr hinter der Geschichte als das. Ein Sprecher des Flughafens sagte so viel zu einer lokalen Zeitung. Ursache und Wirkung sind vielleicht komplexer als das Foto von Hannah, das für Schlagzeilen sorgte. Aber was immer hinter dem Verhalten der Sicherheitsbeamten auf dem Flughafen stecken sollte, oder auch nicht, jedenfalls haben wir wieder ein weiteres Beispiel einer Obrigkeit – dem Sicherheitsapparat des Landes – die mit brutaler Gewalt auf eine komplexe soziale Situation reagiert. Das bringt uns keine Sicherheit.

Was wir stattdessen haben , ist eine bürokratische Illusion von Sicherheit. In einem Kommentar letztes Jahr in USA Today bezeichnete James Bovard das als „Sicherheitstheater“ – eine „Routine, die die Amerikaner viel effektiver unterjocht als beschützt.“ Zum Beispiel zitierte er einen NBC-Bericht, der darauf hinwies, dass die Agenten der TSA (Transportation Security Administration – Transportsicherheitsbehörde) im Juni 2015 versagten, da sie „95% der Waffen und Bomben, die an ihnen von Testpersonen des Generalinspecteurs vorbeigeschmuggelt wurden,“ nicht entdeckten, was nahezulegen scheint, dass die Flughafensicherheit nahezu völlig sinnlos ist.

Ich sage das nicht, um dem Sicherheitspersonal die Schuld zuzuweisen. Diese Leute machen eine schwierige Arbeit, fast sicher ohne entsprechende Ausbildung. Und wenn sie bewaffnet sind, vergrößert sich die Komplexität ihrer sozialen Begegnungen exponentiell. Im letzten Dezember schrieb ich nach einer polizeilichen Tötung, die es kurz in die Medien schaffte: 

„In Chicago schießt ein Polizeibeamter 16mal auf einen Teenager, der in der Mitte der Straße geht, fast als hätte das Schießeisen die Kontrolle über das Gewissen des Beamten übernommen. Barbara Ransby, eine Professorin an der Universität von Illinois in Chicago, die kürzlich von Democracy Now interviewt wurde, führte aus, dass aufgrund von Budgetkürzungen nur rund 20 Polizeibeamte in Chicago eine Ausbildung in Krisenintervention bekommen haben.

„Gott im Himmel, Budgetkürzungen! In einem Land, das ewigen Krieg führt und Milliarden aus dem weltweiten Verkauf von Waffen einnimmt. Stimmt schon, dass der Junge sich nicht ordnungsgemäß benommen hat. Aber wirkliche öffentliche Sicherheit für die Stadt Chicago hätte auch Sicherheit für Laquan McDonald, den 17jährigen beinhalten müssen, der vom Polizeibeamten Jason Van Dyke getötet wurde.

„Ich fürchte, wir drehen die evolutionäre Entwicklung um. Wir haben einer simplizistischen, impulsiven, auf Angst begründeten ‚Sicherheit’ nachgegeben und ernten jetzt die Folgen, jedesmal eine zerbrochene Seele.“

Ja wir ernten wirklich die Konsequenzen. Sicherheit ist mehr als eine Angelegenheit von Schießeisen und Feinden. Solange wir die Illusion von Sicherheit militarisieren, werden wir mehr und mehr selbst zu unseren schlimmsten Feinden.

„Wir stellen uns eine Linie zwischen Gut und Böse vor …”

Das sind die Worte von Philip Zimbardo, die er vor einigen Jahren an eine Tagung der Vereinigung der psychologischen Wissenschaft richtete. Er fuhr fort: „ ... und wir glauben gerne, dass diese undurchdringlich ist. Wir sind die Guten auf dieser Seite. Die bösen Kerle, die bösen Frauen, die sind auf jener Seite, und die schlechten Leute werden niemals gut, und die Guten werden nie böse werden. Heute sage ich, dass das ein Unsinn ist. Weil nämlich diese Linie ... durchlässig ist.“

Zimbardo ist der Forscher, der 1971 das berühmte erschreckende Stanford Prison Experiment durchführte, in dem eine Gruppe von psychologisch gesunden männlichen Studenten die Rolle von Gefangenenwächtern spielen musste, während eine andere Gruppe die Pseudo-Gefangenen waren. Dermaßen mit Macht ausgestattet verwandelten sich die Wächter rasch in ein Kollektiv von Sadisten. Das Experiment musste früh abgebrochen werden. Zimbardo bezeichnete das Phänomen als den Luzifer-Effekt. Seither hat er immer gewarnt, dass normale Männer und Frauen in einem Kontext von zuviel Macht (denken Sie zum Beispiel an Abu Ghraib) diese Linie überschreiten und zu Vertretern des Bösen werden können.

Und bedenken Sie, dass wie Bovard ausführte, ein frühes Motto der TSA lautete „Dominiere. Schüchtere ein. Kontrolliere.“

Das ist der Kontext, in dem ich allzu klar eine Mutter rufen höre „Bitte seien Sie sanft.“ Und ich denke an ein Land, das keine Vorstellung davon hat, wie es sich selbst schützen kann.

 
     
  Archiv > Artikel von Robert C. Koehler auf antikrieg.com  
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Sehen Sie dazu im Archiv:
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