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  Der orwell´sche Kriegsstaat – Gemetzel und Doppeldenk

Norman Solomon  

 

Nach den Bombenanschlägen, die beim Bostoner Marathon so furchtbar getötet und verstümmelt haben, versinken die Politiker und Massenmedien unseres Landes in tief empfundenem Mitleid – und reflexivem „Doppeldenk,“ das George Orwell beschrieb als die Bereitschaft, „jede Tatsache zu vergessen, die unbequem geworden ist.“

Im Gleichklang mit den Medienhäusern im ganzen Land setzte die New York Times eine gruselige Schlagzeile auf die Titelseite der Mittwoch-Ausgabe: „Regierungsvertreter sagen, dass die Bostoner Bomben geladen waren, um zu verstümmeln.“ Die Geschichte berichtete, dass Nägel und Kugellager in Druckkochtöpfe gepackt waren, „um scharfe Splitter in jeden zu schießen, der sich in Reichweite der Explosion befand.“

Viel weniger simpel und eine halbe Tonne schwer waren CBU-87/B-Sprengköpfe in die Kategorie „Munition mit kombinierter Wirkung“ eingestuft, als sie vor 14 Jahren von einem Bomber namens Uncle Sam abgeworfen wurden. Die Berichterstattung der Medien der Vereinigten Staaten von Amerika war kurz und flüchtig.

Am Freitag um die Mittagszeit warfen NATO-Kräfte unter der Führung der Vereinigten Staaten von Amerika Clusterbomben auf die Stadt Nis in die Nähe eines Gemüsemarktes. „Die Bomben schlugen neben dem Krankenhaus und in der Nähe des Marktes ein und brachten Tod und Zerstörung, indem sie die Straßen der drittgrößten Stadt Serbiens mit Granatsplittern übersäten,“ berichtete ein Artikel im San Francisco Chronicle am 8. Mai 1999. 

Und: „In einer Straße, die zum Markt führte, lagen verstümmelte Körper zwischen Karotten und anderem Gemüse verstreut in Blutlachen. Eine tote Frau, deren Körper mit einem Tuch bedeckt war, hielt noch immer eine Einkaufstasche voller Karotten umklammert.“

Indem er erläuterte, dass Clusterbomben „in der Luft explodieren und Granatsplitter in einen weiten Umkreis schleudern,“ schrieb BBC-Korrespondent John Simpson im Sunday Telegraph: „Gegen Menschen eingesetzt sind Clusterbomben eine der barbarischsten Waffen der modernen Kriegsführung.“

Barbarisch zu sein, stand ihrem Einsatz nicht im Weg. In der Tat wurde für Oberbefehlshaber Bill Clinton und die führenden militärischen Köpfe in Washington diese barbarische Komponente aufgewogen durch die positiven Eigenschaften von Clusterbomben. Jede von diesen konnte bis zu 60.000 Stücke gezackten Stahls in was die Waffenproduzenten als „weiche Ziele“ bezeichnen schießen. 

Ein ungewöhnlich gewissenhafter Reporter, Paul Watson von der Los Angeles Times, berichtete aus Pristina, Jugoslawien: „Zeugen hier sagen, dass in den fünf Wochen andauernden Luftangriffen NATO-Kriegsflugzeuge Clusterbomben abgeworfen haben, welche kleinere Einheiten über grosse Gebiete verstreuen. In der Militärsprache werden diese kleineren Einheiten als Bomblets (Bömbchen) bezeichnet. Dr. Rade Grbic, Chirurg und Direktor des Krankenhauses in Pristina, ist tagtäglich mit dem Beweis konfrontiert, dass der fast gutartige Begriff Bomblet für eine tragische Auswirkung steht. Grbic, der zwei albanischen Jungen das Leben rettete, die verletzt wurden, als andere Kinder mit einer Clusterbombe spielten, die sie am Samstag fanden, sagte, dass er noch nie so viele Amputationen durchgeführt habe.“

Der Artikel in der LA Times zitierte Dr. Grbic: „Ich bin jetzt seit 15 Jahren Orthopäde und arbeite in einer Krisenregion, wo wir oft mit Verletzungen zu tun haben, aber weder ich noch meine Kollegen habe je so fürchterliche Wunden gesehen wie die, die von den Clusterbomben verursacht werden.“ Und weiter: „Das sind Verletzungen, die in einem großen Ausmaß zu Behinderungen führen. Die Glieder werden so zerschrotet, dass die einzig bleibende Option die Amputation ist. Es ist entsetzlich, entsetzlich.“

Der Zeitungsbericht fährt fort: „Allein das Krankenhaus in Pristina hat 300-400 Menschen behandelt, die von Clusterbomben verletzt worden sind, seit der Luftkrieg der NATO am 24. März begann, sagte Grbic. Rund die Hälfte dieser Opfer sind Zivilisten, sagte er. Weil diese Zahl die von Clusterbomben Getöteten nicht einschließt und diejenigen nicht erfasst, die in anderen Regionen Jugoslawiens verwundet worden sind, ist die Zahl der Opfer wahrscheinlich viel höher, sagte er. ‚Die meisten Menschen sind Opfer der mit Zeitzünder versehenen Clusterbomben, welche einige Zeit nach ihrem Fall explodieren,’ sagte er.“ 

Später, während Einmärschen und in Anfangsperioden einer Okkupation, warf das Militär der Vereinigten Staaten von Amerika Clusterbomben auf Afghanistan und verfeuerte Clustermunition im Irak.

Heute ist das Außenministerium der Vereinigten Staaten von Amerika noch immer gegen die Ächtung dieser Waffen und stellt auf seiner Website fest: „Clustermunition hat militärische Nützlichkeit bewiesen. Ihre Ausgliederung aus den Munitionsbeständen der Vereinigten Staaten von Amerika würde das Leben ihrer Soldaten und das ihrer Koalitionspartner aufs Spiel setzen.“

Die Stellungnahme des Außenministeriums fährt fort: „Darüber hinaus kann Clustermunition oft zu viel weniger Kollateralschaden führen als unitäre Waffen wie eine größere Bombe oder ein größeres Artilleriegeschoss verursachen würden, wenn sie für den selben Zweck genützt würden.“ Vielleicht hatten die Bombenattentäter, die die Druckkochtöpfe mit Nägeln und Kugellagern füllten, eine ähnlich perverse Begründung.

Erwarten Sie jedoch keine Untersuchungen derartiger Angelegenheiten durch die Tageszeitungen oder kommerziellen Netzwerke der Vereinigten Staaten von Amerika – oder etwa von „Morning Edition“ und „All Things Considered“ von NPR (der amerikanische „Kultursender“, d.Ü.) oder der PBS „News Hour.“ Wenn es um Töten und Verstümmeln geht, vertreten derlei Neuigkeitenverbreiter von vorneherein den mutmasslich moralisch hochwertigen Standpunkt der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika.

In seinem Roman 1984 schrieb Orwell über den konditionierten Reflex des „wie instinktiv kurz vor der Schwelle jedes gefährlichen Gedankens Stehenbleibens ... und von jedem gedanklichen Ablauf, der möglicherweise in ein häretisches Fahrwasser führt, gelangweilt oder abgestossen zu sein.“

Das Doppeldenk – andauernd verstärkt durch die Massenmedien – bewegt sich innerhalb einer ironiefreien Zone, die auf reine Selbstsatire hinauslaufen würde, wenn sie nicht dermaßen die intellektuellen und moralischen Zusammenhänge in Frage stellte.

Jede Nachrichtenmeldung über die Kinder, die an der Ziellinie in Boston getötet oder verletzt worden sind, jeder Bericht über den entsetzlichen Verlust von Gliedmaßen lässt mich an ein kleines Mädchen namens Guljumma denken. Sie war sieben Jahre alt, als ich sie in einem afghanischen Flüchtlingslager an einem Tag im Sommer 2009 traf.

Damals schrieb ich: „Guljumma sprach darüber, was an einem Morgen im letzten Jahr geschah, als sie zuhause im Helmandtal im Süden Afghanistans schlief. Ungefähr um 5 Uhr morgens explodierten Bomben. Einige Menschen ihrer Familie starben. Sie verlor einen Arm.

In dem Flüchtlingslager in der Randzone von Kabul, wo ein paar hundert Familien in armseligen Verhältnissen lebten, gab es keine Hilfe von der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika. Das letzte Mal, als Guljumma und ihr Vater bedeutsamen Kontakt mit der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika hatten, war als diese sie bombardierte.

Krieg gedeiht auf Abstraktionen, aber Guljumma war keine Abstraktion. Sie war um nichts mehr oder weniger eine Abstraktion als die Kinder, deren Leben für immer durch das Bombenattentat an der Bostoner Ziellinie ruiniert wurde.

Doch die selben Nachrichtenmedien in den Vereinigten Staaten von Amerika, die die Kostbarkeit von Kindern propagieren, die in Boston so furchtbar getroffen worden sind, interessieren sich kaum für Kinder wie Guljumma. 

Ich dachte wieder an sie, als ich am 7. April Berichte und ein gruseliges Foto (> LINK) sah, kurz nachdem elf Kinder in Ostafghanistan noch unglückseliger getroffen wurden als sie. Diese Kinder starben durch einen Luftangriff der Vereinigten Staaten von Amerika und deren NATO-HiWis. Für normale amerikanische Journalisten war das keine besondere Geschichte, für amerikanische Regierungsvertreter war es auch kaum der Rede wert.

„Zirkushunde springen, wenn der Trainer mit seiner Peitsche knallt,“ beobachtete Orwell, „aber der wirklich gut erzogene Hund ist der, der seinen Salto macht, wenn keine Peitsche da ist.“

 
     
  erschienen am 18. April 2013 auf > www.antiwar.com > Artikel  
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