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Der Wille zum Machtkampf

German Foreign Policy

 

LONDON/BERLIN (Eigener Bericht) - Die Bundesregierung verfügt bis heute über keine Beweise für die schweren Vorwürfe, mit denen sie ihre Beteiligung an der Massenausweisung russischer Diplomaten aus diversen westlichen Staaten begründet hat. Wie die Regierung in ihrer Antwort auf eine Anfrage im Bundestag einräumt, hat sie jenseits angeblicher Indizien, die britische Regierungsstellen vorgelegt haben, keinerlei eigene Erkenntnisse über den Nervengiftanschlag in Salisbury. Zugleich bröckelt die ohnehin dürftige Überzeugungskraft der "Argumente", die bislang vorgebracht wurden, um eine russische Täterschaft zu suggerieren. So hat die Organisation für das Verbot Chemischer Waffen (OPCW) der Behauptung ihres Generaldirektors widersprechen müssen, in Salisbury sei bis zu einer halben Tasse Nowitschok zur Anwendung gekommen. Die Vermutung, nur Russland könne das Nervengift hergestellt haben, ist widerlegt, seit bekannt wurde, dass nicht zuletzt Deutschland den Stoff besessen hat. Die beweislosen Vorwürfe zeigen vor allem den Willen, den Machtkampf gegen Moskau hemmungslos zu eskalieren.

"Keine weiteren Erkenntnisse"

Die Bundesregierung verfügt bis heute über keine Beweise für den gravierenden Vorwurf, russische Staatsstellen trügen Verantwortung für den Nervengiftanschlag auf den früheren russischen Agenten Sergej Skripal und seine Tochter Julija Skripal am 4. März in der englischen Kleinstadt Salisbury. Zahlreiche westliche Regierungen hatten die Schuld umstandslos Russland zugeschrieben und Ende März in einer koordinierten Strafaktion rund 150 russische Diplomaten aus insgesamt 26 Ländern ausgewiesen.[1] Beweise für die angebliche Täterschaft sind allerdings nie vorgelegt worden. Die Bundesregierung hat jetzt in einer Antwort auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag bestätigt, sich bei der Entscheidung zur Ausweisung von vier Diplomaten aus Deutschland lediglich auf Indizien gestützt zu haben, die von britischen Stellen vorgelegt wurden. "Großbritannien hat ... detailliert dargelegt, weshalb die Verantwortung Russlands sehr wahrscheinlich ist und es keine plausible alternative Erklärung gibt", heißt es in der offiziellen Stellungnahme: "Weitere Erkenntnisse liegen der Bundesregierung nicht vor".[2]

 

"Eine halbe Tasse Nowitschok"

Dabei nehmen die Ungereimtheiten, die sich um die britischen Schuldzuweisungen ranken, schon seit Wochen immer weiter zu. Widersprüchlich sind bereits die Angaben über das Nervengift selbst, mit dem der Anschlag verübt wurde. Britische Ermittlungsbehörden gehen laut offiziellen Angaben derzeit davon aus, dass das Gift ("Nowitschok") in Form eines Gels auf die Klinke von Skripals Wohnungstür aufgetragen wurde. Dem hat Anfang Mai der Generaldirektor der Organisation für das Verbot Chemischer Waffen (OPCW), Ahmet Üzümcü, widersprochen. Demnach sei der Stoff in flüssiger Form, womöglich auch als Spray, genutzt worden. Üzümcü erklärte zudem, es seien 50 bis 100 Gramm zur Anwendung gekommen - "etwas weniger als eine viertel- bis zu einer halben Tasse Flüssigkeit".[3] Die Angabe ist von Bedeutung - denn zum einen würde eine so große Menge Nowitschok nach Angaben von Experten zu Forschungszwecken nicht benötigt, sondern lediglich im Rahmen gezielter Chemiewaffenproduktion hergestellt; zum anderen entspräche sie dem Flüssigkeitsvolumen (maximal 100 Milliliter), das in Zivilflugzeugen jederzeit mitgeführt werden darf, was einen Antransport aus dem Ausland nahelegt. Experten haben Üzümcüs Behauptung allerdings umgehend zurückgewiesen: 50 bis 100 Gramm Nowitschok hätten genügt, um Skripals gesamte Nachbarschaft zu töten. Die OPCW hat ihrem Generaldirektor umgehend widersprochen und ausdrücklich erklärt, es sei zwar unmöglich, die angewandte Nowitschok-Menge genau zu bestimmen; man gehe allerdings von einer in Milligramm zu beziffernden Größenordnung aus.[4]

 

Heuchelei

Zusätzlich zu den Ungereimtheiten um das Nervengift selbst ist auch die Behauptung nicht mehr aufrechtzuerhalten, ausschließlich Russland könne den Einsatz von Nowitschok in Auftrag gegeben haben, da es den Stoff einst entwickelt und womöglich noch vorrätig habe habe. Die Behauptung ist ohnehin nie wirklich glaubwürdig gewesen; schließlich hat Nowitschok-Erfinder Vil Mirzayanov nicht nur nach seiner Flucht in die Vereinigten Staaten in den 1990er Jahren dort seine Kenntnisse über das Gift ausgepackt, sondern auch mehrmals erklärt, es sei einfach zu produzieren, und im Jahr 2008 sogar die Formel dafür publiziert.[5] Als endgültig widerlegt kann die Aussage jedoch gelten, seit Tschechiens Staatspräsident Miloš Zeman Anfang Mai einräumte, Nowitschok sei im November 2017 in einem militärischen Forschungsinstitut in Brno hergestellt worden. Zwar habe man lediglich geringe Mengen zu Forschungszwecken produziert und sie anschließend vernichtet; doch "wäre es Heuchelei", urteilte Zeman, "so zu tun, als ob nichts geschehen wäre".[6] Bereits zu sozialistischen Zeiten galt die tschechoslowakische Forschung zu Chemiewaffen als sehr weit fortgeschritten; auch deshalb hat die NATO ihr Kompetenzzentrum zur Chemiewaffenabwehr (Joint Chemical, Biological, Radiation & Nuclear Defence Centre of Excellence, JCBRN Defence) in Vyškov rund zehn Kilometer nordöstlich von Brno angesiedelt - also in unmittelbarer räumlicher Nähe zum tschechischen Armeelabor. Dessen Leiter ist, nachdem die Produktion von Nowitschok in der Einrichtung bekannt geworden war, fristlos entlassen worden.

 

Nervengift für den BND

Mitte Mai haben Berichte zudem enthüllt, dass auch der Bundesnachrichtendienst im Besitz von Nowitschok gewesen ist. Demnach konnte ein BND-Agent in den 1990er Jahren eine Probe des Nervengifts beschaffen - bei einem russischen Wissenschaftler, der neben der Preisgabe seiner Kenntnisse über den Stoff auch die Übermittlung einer geringen Menge davon an deutsche Stellen versprach. Als Gegenleistung verlangte er ein sicheres Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik. Kanzleramt und Verteidigungsministerium stimmten dem Deal damals zu. Die Probe wurde den Berichten zufolge in einem Labor in Schweden analysiert; BND und Verteidigungsministerium erhielten danach die chemische Formel. Anschließend beteiligten sich deutsche Experten an einer NATO-Arbeitsgruppe, die sämtliche Erkenntnisse zu Nowitschok zusammentrug [7]; neben dem BND waren Geheimdienste aus den Vereinigten Staaten, Kanada, Großbritannien und den Niederlanden involviert [8]. Wie es heißt, produzierten einige NATO-Staaten geringe Mengen des Nervengifts - mit der Begründung, man müsse ja nun einmal Schutzausrüstung, Messgeräte und Gegenmittel entwickeln.

 

Insinuationen

Offenbar in einem Versuch, die immer haltloser werdenden Beschuldigungen gegen Russland mit neuen Argumenten zu begründen, haben Geheimdienstkreise vor einigen Tagen Berichte über Skripals Tätigkeiten in den vergangenen Jahren lanciert. Demnach ist Skripal, der 1999 seine Arbeit für den russischen Militärgeheimdienst GRU einstellte, 2004 wegen Spionage für Großbritannien in Russland inhaftiert und 2010 im Rahmen eines Agentenaustauschs in das Vereinigte Königreich überstellt wurde, zuletzt wieder geheimdienstlich tätig gewesen: Er habe, so wird berichtet, auf Vermittlung des britischen MI6 Vorträge vor Agenten aus Tschechien und Estland gehalten, um diese über Arbeitsweise und Methoden der russischen Dienste zu informieren. Dies könne ihn, so heißt es, zum Ziel russischer Angriffe gemacht haben.[9] Die Insinuation überzeugt allerdings nicht. Zum einen ist es unter ehemaligen Spionen keineswegs unüblich, sich mit Vorträgen ein Zubrot zur oft nicht üppigen staatlichen Rente zu verdienen; zum anderen ist Skripal seit 1999 aus dem Geschäft, hat längst dem britischen MI6, für den er arbeitete, all seine Kenntnisse übermittelt und ist nach Lage der Dinge gar nicht fähig, Insiderinformationen über Entwicklung und Personal der russischen Dienste in den letzten zwei Jahrzehnten zu liefern. Gefährlich für die russischen Dienste ist er damit nicht.

 

Hemmungslose Eskalation

Tatsächlich haben die britischen Polizeibehörden erst vor wenigen Tagen erneut bekräftigt, von der Lösung des Falls noch weit entfernt zu sein; von "Monaten" penibler Recherche, die wohl noch bevorstünden, war die Rede.[10] Die Bereitschaft auch Berlins, Moskau ohne jeglichen Beweis mit gravierenden Vorwürfen zu überziehen, zeigt dabei vor allem eins: den Willen der deutschen Eliten, den Machtkampf gegen Russland ohne Rücksicht auf völkerrechtliche Standards hemmungslos zu eskalieren.

* * *

[1] An den Ausweisungen beteiligt haben sich 19 EU-Staaten, daneben die USA, Kanada, Norwegen, Australien, Mazedonien, Albanien, die Ukraine sowie die NATO. Nicht beteiligt haben sich - unter anderem wegen der völlig unzureichenden Beweislage - Luxemburg, Portugal, Österreich, Slowenien, die Slowakei, Bulgarien, Griechenland, Zypern und Malta.

[2] Marion Trimborn: Bundesregierung hat keine eigenen Erkenntnisse über Fall Skripal. noz.de 18.05.2018.

[3] Patrick Wintour: Chemical weapons watchdog amends claim over Salisbury novichok. theguardian.com 04.05.2018.

[4] OPCW Spokesperson’s Statement on Amount of Nerve Agent Used in Salisbury. opcw.org 04.05.2018.

[5] S. dazu Auf dem Weg in den Weltkrieg.

[6] Was heißt hier eigentlich Nowitschok? Frankfurter Allgemeine Zeitung 05.05.2018.

[7] Georg Mascolo, Holger Stark: BND beschaffte Nervengift "Nowitschok" in den 90er Jahren. sueddeutsche.de 16.05.2018.

[8] Klaus Wiegrefe: Alliierte wussten schon vor BND von Nowitschok. spiegel.de 18.05.2018.

[9] Michael Schwirtz, Ellen Barry: Sergei Skripal Was Retired, but Still in the Spy Game. Is That Why He Was Poisoned? nytimes.com 14.05.2018.

[10] Ex-spy Sergei Skripal discharged after poisoning. bbc.co.uk 18.05.2018.

 
     
  erschienen am 22. Mai 2018 auf > German Foreign Policy > Artikel  
  Herzlichen Dank den Kollegen von German Foreign Policy, einer Website, die ich täglich lese und die ich uneingeschränkt empfehle.  
  Archiv > Artikel von German Foreign Policy auf antikrieg.com  
 
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Das ist die Politik der Europäischen Union, die offenbar von bestimmten Interessengruppen gelenkt wird und sich aufführt wie die Vereinigte Kolonialverwaltung der europäischen Ex-Kolonialmächte. Warum unsere politischen Vertreter nicht gegen diese kranke und abwegige, für keinen vernünftigen Menschen nachvollziehbare Politik auftreten, fragen Sie diese am besten selbst!

 
> Appell der syrischen Kirchenführer im Juni 2016 (!): Die Sanktionen der Europäischen Union gegen Syrien und die Syrer sind unverzüglich aufzuheben! (LINK) <
     
 
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