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  Israel im neuen Jahrzehnt

Ran HaCohen 

Vor dem Abendessen schalte ich den Fernseher ein. Hauptsendezeit. Eine israelische Serie: „Die Frauen der Piloten“ („Treffen Sie die Frauen, die hinter unseren Helden stehen,“ hieß es in der Ankündigung), gelegentlich unterbrochen von Werbung, in der ein Soldat das Essen seiner Mutter vermisst (Hinweis: „der Schauspieler ist kein Soldat“). Nach der Serie ein kurzes Programm des Öffentlichen Dienstes, in dem eine Gruppe junger Männer gezeigt wird, von denen jeder mit seinem Militärdienst angibt, bis sie draufkommen, dass einer von ihnen – schneller Zoom auf diesen – nichts sagt; die Botschaft ist klar. Dann die Nachrichten, mit mindestens einer Werbemeldung des Militärs: „Teenage-Mädchen sind scharf darauf, Kämpferinnen zu werden“, „ferngesteuertes Wach- und Schießsystem am Zaun um Gaza“, „einzigartiger Einblick in geheime Luftwaffenbasis“ und so weiter. Nicht zu reden von den wirklichen Nachrichten über die Palästinensergebiete, Libanon, Iran oder auch über die Millionen von Terroristen, die angeblich als armselige afrikanische Flüchtlinge verkleidet an der ägyptischen Grenze warten, um Israel zu überschwemmen: alle diese Themen und noch viel mehr werden hauptsächlich vom Militär behandelt und präsentiert. 

Der Dienst beim Militär wurde zu einem bedeutenden Thema in der öffentlichen Diskussion in Israel gemacht. Nicht dass die Armee zu wenig Soldaten hätte: im Gegenteil, die Anzahl derer, die sich darum bewerben, in Kampfeinheiten „ihrem Land zu dienen,“ hat Rekordhöhen erreicht. Nichtsdestotrotz bildet die Einigung der Nation um das Militär als höchstes Gut ein Ziel für sich, besonders wenn es implizit die israelischen Palästinenser ausschließt, die nicht eingezogen werden. So wurde der Bühnen- und Filmschauspieler Itay Tiran aus der offiziellen israelischen Propaganda-Website entfernt, nachdem jemand bemerkt hatte, dass er nicht beim Militär gedient hat; und, entsprechend dem Zeitgeist, der „national linksgerichtete“ Theaterschreiber Shmuel Hasfari sagte, er würde sich weigern, mit Tiran zu arbeiten, „gerade wie  mit einem Mörder oder Vergewaltiger.“

Die meisten israelischen Künstler achten sorgfältig darauf, sich nicht kritisch über die Politik Israels zu äußern und schon überhaupt kein Wort gegen den tiefgehenden Militarismus und Rassismus des Landes zu sagen; Scander Kobti, Codirektor von Ajami, der für einen Academy Award für den besten fremdsprachigen Film nominiert war, verursachte einen Skandal, nur weil er sagte, er würde in Hollywood „nicht Israel vertreten“ („Ich kann nicht einen Staat vertreten, der mich nicht vertritt,“ stellte der israelische Palästinenser fest) – schon das ist mehr, als das selektiv empfindliche israelische Ohr vertragen kann. Von jedem Israeli wird erwartet, im Ausland ein Botschafter zu sein – kein Wunder, dass in einer sehr populären israelischen Reality-Show vor ein paar Jahren Kandidaten darum wetteiferten, wer im Ausland am besten die israelische Propaganda repräsentierte (ein ehemaliger Armeesprecher war unter den Juroren). Denken Sie daran, wenn Sie das nächste Mal mit einem Israeli reden: besonders außerhalb Israels könnten Sie nicht die Wahrheit hören, sondern die offizielle Staatspropaganda. Viele Israelis glauben allerdings, dass es keinen Unterschied zwischen den beiden gibt. 

Der tief gehende Rassismus [in] der israelischen Psyche nimmt zu. In den 1990er Jahren gab es zumindest im Rückblick eine gewisse Liberalisierung in der öffentlichen Debatte; das erste Jahrzehnt dieses Jahrhunderts machte sie zunichte, und jetzt gibt es kaum noch eine mild-kritische, links-liberale Stimme in der Öffentlichkeit. Kein Wunder, dass die liberale Linke gerade drei der 120 Sitze in der Knesset besetzt; alle anderen Parteien repräsentieren Schattierungen von rechts, radikal-rechts oder faschistisch (außer den kleinen „arabischen“ Außenseiterparteien). Die rassistische Einstellung lässt sich oft erkennen in ganz normalen Alltagssituationen, wie zum Beispiel bei meiner älteren Nachbarin, die, nachdem ich ihr sagte, ich habe gestern Nacht jemanden durch mein Fenster schauen gesehen, instinktiv mit einer einzigen Frage reagierte: „Haben Sie gesehen, ob es ein Jude oder ein Araber war?“

Wenn ich die Niederlande erwähne, höre ich immer öfter, dass alle Holländer Antisemiten waren und mit den Nazis kollaborierten; meine bereits gewohnheitsmäßige Reaktion – dass meine Großeltern und meine Mutter ihr Leben holländischen Christen verdanken, die ihr eigenes Leben aufs Spiel setzten, um sie zu retten – stößt auf Achselzucken, das etwas ausdrückt wie „lass mein wertvolles Vorurteil in Ruhe“ oder „sei nicht so naiv, wir wissen, dass uns alle hassen.“ Und das nicht nur im Fall der Niederlande: von Schweden bis Äthiopien, von der Türkei bis Argentinien, ganz egal, wie freundlich eine Nation in der Geschichte gegenüber Juden (und Israel) war, den Israelis wird eingetrichtert, alle Nichtjuden („Gojim“ ist der abschätzige Begriff, der von den meisten Hebräischsprechenden unkritisch benutzt wird) seien inhärent antisemitisch und daher antiisraelisch eingestellt. Jegliche Kritik an der Politik Israels wird automatisch abgetan als jeweils neue Verkörperung eines endemischen, unheilbaren Hasses gegen die Juden. Gerade wie der Antikommunismus die Nationalreligion der Vereinigten Staaten von Amerika während des Kalten Kriegs war, ist der fanatische Glauben an eine ewige weltweite antisemitische Verschwörung die wahre nationale Religion Israels. Die Stimmen, die sogar Präsident Obama als antisemitisch hinstellen, sind nur ein Unterton in einem ohrenbetäubenden Chor der Hetze gegen jede abweichende Stimme, sei es innerhalb oder außerhalb.  

Die jüngere Generation kennt kaum etwas anderes. Wie könnte sie auch? Nurit Peled-Elhanan, Professorin an der Hebräischen Universität in Jerusalem zeigt auf, dass israelische Schulbücher – deren Texte, Landkarten und Bilder – inhärent rassistisch sind, besonders gegenüber Arabern; während allerdings der Rassismus in den Schulbüchern der 1990er Jahre ausgeklügelt maskiert war, tritt er in der letzten Dekade offen und unverblümt zu Tage. Araber werden durchgehend als primitiv, bedrohlich und unglaubwürdig; die palästinensische Sicht wird entweder verzerrt oder bestritten, oder einfach ignoriert. Die Okkupation, sagt Peled-Elhanan, wird nie erwähnt, die Grüne Linie existiert nicht, viele Israelis wissen nicht mehr, was das ist, und erst recht nicht, wo sie verläuft. 

Sogar die Sprache gibt nach: wo der Begriff “besetzte Gebiete” vor ein paar Jahren noch einigermaßen neutral klang, wo sogar Ariel Sharon den Begriff „Okkupation“ benutzte, hat sich heute der widerliche Euphemismus „befreite Gebiete“ eingebürgert. Gleichzeitig werden Scheinheiligkeit und Doppelmoral kultiviert: rechte Parteien außerhalb Israels werden regelmäßig als „extremistisch“, „fremdenfeindlich“ oder „rassistisch“ bezeichnet, Bezeichnungen, die nie auf viel extremere israelische Parteien angewendet werden. Das offizielle Israel ist schockiert und entrüstet über die Benennung einer Straße in Ramallah nach dem palästinensischen Terroristen Ayyash (ermordet von Israel 1996); gleichzeitig sind nach dem rechtsextremen israelischen Anführer Ze´evi (ermordet von Palästinensern 2001), dessen politisches Hauptanliegen die ethnische Säuberung („Transfer“) aller Palästinenser war, einige Straßen, drei Promenaden, zwei Siedlungen, eine Autobahn, eine Brücke und ein Armeestützpunkt benannt, sowie ein Gesetz zu seinem Andenken, das zukünftigen Generationen sein „Erbe“ vermitteln soll.

Ist es zu spät?

Das ist die derzeitige Atmosphäre in Israel – die einer wachsenden nationalistischen Selbstgerechtigkeit, besonders unter der jüngeren Generation. Nach einer kürzlich durchgeführten Umfrage würden 35% der Israelis über 30 rechtsgerichtete Parteien wählen, bei jüngeren Menschen bis 29 ist diese Zahl fast doppelt so groß, nämlich 61%.

Heißt das, dass es keine Chance auf Frieden gibt? Eine schwierige Frage. Ungeachtet des oben Gesagten zeigen Umfragen auch 60% öffentliche Unterstützung für die Entfernung der meisten Siedlungen. Wie immer glaubt diese 60%ige Mehrheit israelischer Juden überwiegend, sie sei in der Minderheit – nur ein Drittel der Befragten sagte, dass so ein Rückzug von der Mehrheit der Israelis unterstützt wird. Diese letzte Zahl – die Mehrheit, der eingeredet wird, dass sie eine Minderheit ist – ist eine der größten Errungenschaften der offiziellen israelischen Gehirnwäsche und ist seit vielen Jahren gleich geblieben.

Man kann daher Zeev Sternhells Appell an Obamas Washington verstehen, eine vorgegebene Lösung zu oktroyieren: „Wäre die israelische Gesellschaft bereit, den Preis für den Frieden zu bezahlen, würde ihre Regierung nicht die Flammen des Konflikts entfachen [...] Es ergibt sich also, dass [...] die einzige Lösung eine aufoktroyierte ist“, schreibt der prominente israelische Politikwissenschaftler. Selbstverständlich ist das auch kein rosiges Szenario. In klarer Anlehnung an die Forderungen der Nazis, die deutschen Politiker, die den „demütigenden“ Vertrag von Versailles (1919) unterzeichneten, vor Gericht zu stellen, hat die israelische Rechte bereits gefordert, „die Oslo-Verbrecher vor Gericht zu stellen“ wegen der Unterzeichnung des Oslo-Abkommens. Wenn man an die europäische Geschichte denkt, kann man sich vorstellen, wie israelische Faschisten auf einen „aufoktroyierten Frieden“ reagieren würden. Glücklicherweise sind sie nur eine Minderheit, aber angesichts der derzeitigen Atmosphäre in Israel wie auch des demografischen Vorteils der Rechten (orthodoxe Juden haben viel mehr Kinder) könnte sich das bald ändern. Die Zeit - wenn wir noch Zeit haben - vergeht schnell.  

 
     
  Erschienen am 10. April 2010 auf > http://www.antiwar.com > http://original.antiwar.com/hacohen/2010/04/09/israel-a-new-decade/  
  Ran HaCohen lehrt in der Abteilung Vergleichende Literatur an der Tel Aviv Universität und ist Literaturkritiker für die israelische Tageszeitung Yedioth Ahronoth, Israels verbreitetste Tageszeitung.

Er wurde 1964 in Holland geboren und wuchs in Israel auf. „Letter from Israel“ (Brief aus Israel) erscheint gelegentlich auf www.antiwar.com.

 
     
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