HOME     INHALT     INFO     LINKS     ARCHIV     KONTAKT
 
     
  Warum Israel damit davonkommen wird

Gabriel Winant

Man würde annehmen, dass die Gewaltanwendung gegen die Hilfsflotte für Gaza eindeutig eine schlechte Nachricht für Israel ist. Indem es ein ziviles Schiff mit einer Ladung von humanitären Hilfsgütern gekapert und sich in einen Zwischenfall hineintheatert hat, der mindestens zehn zivile Todesopfer gekostet hat, scheint es klar, dass das israelische Militär politische Kosten verursacht hat, die weit über das nationale Interesse hinausgehen, das zu beschützen es geglaubt hat. Europa ist empört, die Türkei bricht die Beziehungen ab, und eine Explosion in den okkupierten Territorien erscheint möglich.

Es ist nie leicht vorherzusagen, was in der Nahostpolitik passieren wird. Ich denke aber, dass wir den Zwischenfall überbewerten – nicht in seiner moralischen Gewichtung, aber in seinen wahrscheinlichen unmittelbaren politischen Auswirkungen.

Der erste Punkt von allen ist, dass Israel seine weitaus entscheidende Beziehung mit den Vereinigten Staaten von Amerika hat, und es gibt kaum Hinweise, dass sich diese Beziehung verändern wird. Der feste Konsens auf Eliteebene, alles zu tolerieren, was Israel tun will, ruht auf einem weichen Konsens in der amerikanischen öffentlichen Meinung. Beide werden wahrscheinlich dieses Ereignis ein bisschen lädiert überstehen, wie sie auch die beiden Libanonkriege überstanden haben (komplett mit völlig unprovozierten Massakern), den kleinen Krieg gegen Gaza und die Bildung einer israelischen Regierung mit einem quasi faschistischen Außenminister.

Dazu kommt, dass obwohl die israelischen Kommandotruppen die Schiffe im Rahmen eines breit angelegten, ausdrücklichen und unhaltbaren Bestrebens, grundlegende Versorgungsgüter aus dem desperat verelendeten Gaza herauszuhalten, gekapert haben, die Unterstützer Israels aggressiv eine die-Opfer-sind-Schuld-Gegengeschichte vorantreiben. Es gab Schläger und Messer an Bord, sagen sie, und es gibt jetzt einVideo, auf dem man sieht, wie Passagiere Soldaten jagen und angreifen. Das wird die Wasser wahrscheinlich genügend trüben, um die Amerikaner davon abzuhalten, mit Empörung zu reagieren. 

Amerikanische Konservative verstärken bereits ihre Attacken gegen die Passagiere der Schiffe. In einem Kommentar bezeichnet Noah Pollack sie als „terroristische Blockadebrecher.“ Anscheinend kann man ein Terrorist sogar vor der Mündung des Gewehrs sein. In National Review Online schreibt Daniel Pipes: „Israels Feinde ... griffen zu anderen Mitteln ... Massenvernichtungswaffen, Terrorismus und (seit neuestem) politische Entlegitimisierung. Entlegitimisierung stellt die Regeln des Krieges auf den Kopf: im Besonderen ist Stärke Schwäche, und die öffentliche Meinung ist von höchster Bedeutung.“

(Bei seiner Erwähnung von „Entlegitimisierung“ im gleichen Atemzug mit Massenvernichtungswaffen und Terrorismus scheint Pipes nicht die Tatsache zu bedenken, dass das eine sonderbare Waffe ist, die vom Ziel verlangt, sie auszulösen. Man kann Israel nicht so schlimm aussehen lassen, wenn Israel sich nicht schlimm benimmt, und wer ist in diesem Fall der Schurke? Pipes ist wie der südafrikanische Politiker, der die Antiapartheidaktivistin Helen Suzman beschuldigte, ihr Land in Verlegenheit zu bringen. Sie antwortete: „Es sind nicht meine Fragen, die Südafrika in Verlegenheit bringen. Es sind Ihre Antworten.“)

Aber Pipes Pesimismus ist wahrscheinlich nicht angebracht. Wenn sie sehen, dass die Konservativen zu Israels Verteidigung eilen und die Liberalen sich winden und schwafeln, dann werden die Amerikaner, die sich auch nur mäßig interessieren, wahrscheinlich denken, dass es wieder einmal um das Übliche geht. Während die Regierung Obama versucht hat, Druck auf die Regierung von Premierminister Bebjamin Netanjahu auszuüben, bleibt noch abzuwarten, ob auch ein Wille erkennbar ist, für diese Bemühung entsprechendes politisches Kapital aufzuwenden. Dieser letzte Zwischenfall könnte Präsident Obama mehr Einfluss und seinen Warnungen mehr Gewicht verleihen, dass Israel selbst seine eigene langfristige politische Position untergräbt. Aber es scheint genauso wahrscheinlich, dass es keine besonderen kurzfristigen Auswirkungen geben wird und die israelischen Konservativen denken werden, dass sich alles zum Besten gewendet hat.

Wen die Vereinigten Staaten von Amerika es nicht schaffen, die Gewalt als Lernansatz für Israel zu nutzen, wer dann? So sehr die Europäer auch wütend sind, ist doch schwer zu sagen, was sie in der Angelegenheit tun könnten oder würden. Und wenn Netanjahu die Vereinigten Staaten von Amerika glücklich ignorieren oder rüffeln wird, ist so gut wie unvorstellbar, dass er sich auch nur das geringste um Frankreich oder Spanien schert.

Bleiben also die Palästinenser als diejenigen, die irgendeine Art von sinnvollem Protest gegen Israel auf die Beine bringen. Aber wenn die Tötungen auf hoher See einen neuen Aufstand oder eine Welle des Terrorismus hervorrufen, wird sich Israel wahrscheinlich nur noch weiter verschanzen und die amerikanischen und israelischen rechten Flügel werden wieder einmal den Palästinensern die Schuld zuschieben, weil sie den Frieden verhindern. 

Ich bin kein Experte für palästinensische öffentliche Meinung, aber ich bezweifle, dass das passieren wird. Der Überfall fand in internationalen Gewässern statt, auf eine internationale Gruppe von Aktivisten. Die Schiffe hatten zivile Ladung geladen. Das alles ist besonders abscheulich für westliche Liberale. Und es ist auch besonders abscheulich. Für Palästinenser scheint es jedoch wahrscheinlich irgendwie eine Routine zu sein. Wenn man, staatenlos, unter einer Jahrzehnte dauernden militärischen Okkupation lebt, unterbrochen durch periodische Zerstörungen, Luftangriffe und Blockaden, verlieren diese Unterscheidungen – zivil und militärisch, international und souverän – einiges von ihrem Gewicht und erscheinen eher ein bisschen akademisch oder sogar sentimental. Die israelische Armee hat ja immerhin tausende Palästinenser getötet. Jetzt einen großen Aufstand vorauszusagen, weil Israel es gewagt hat, ein Schiff mit Europäern an Bord anzugreifen, ist eine merkwürdige Forderung von Sympathie von Menschen, die nur mehr höchst sparsam austeilen können. 

Offensichtlich ist die Situation offen. Vorhersage ist etwas, auf das sich nur ein Dummkopf einlassen würde. Dieser Dummkopf jedenfalls glaubt, dass Israel damit davonkommen wird.

Aber was damit davon zu kommen heißt, ist wie zu überlegen, wie man den Kork ein bisschen länger in der Flasche behalten kann. Je mehr die israelischen Politiker das Denken auf die lange Bank schieben, desto schlimmer wird es werden. Das beste, was aus diesem Zwischenfall für den jüdischen Staat herauskommen könnte wäre, dass eine internationale Koalition diesen als Hebel gegen Netanjahu verwendet. Zur Zeit besteht für ihn und seine Verbündeten in der Rechten das Grundmodell der Regierung darin, dass man Israels zukünftige Position aufs Spiel setzt im Austausch für kurzfristige Gewinne von Sicherheit oder Land. In anderen Worten - es ist langfristig gesehen eine schlechte Nachricht für Israel, wenn es damit davonkommt. Aber das ist zur Zeit für die israelische Regierung nicht besonders wichtig. 

 
     
  Erschienen am 1. Juni 2010 auf > http://www.salon.com > http://www.salon.com/news/politics/war_room/2010/06/01/israel_get_away/index.html  
     
  <<< Inhalt