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  Julian Assange hat uns sicherer gemacht 

Johann Hari

Jeder von uns steht in der Schuld von Julian Assange. Dank ihm wissen wir jetzt, dass unsere Regierungen eine Politik betreiben, die Sie und Ihre Familie in beträchtlich größere Gefahr bringt. WikiLeaks hat uns informiert, dass sie insgeheim einen Krieg gegen ein weiteres muslimisches Land begonnen haben, dass sie die Folter genehmigt haben, unschuldige Menschen von den Straßen freier Länder entführt und die Polizei eingeschüchtert haben, damit sie nichts unternimmt, und die Tötung von 15.000 Zivilisten – fünfmal so viele wie am 9/11 getötet worden sind – vertuscht. Wir können diese Politik nur ändern, wenn wir sie kennen – und Assange hat uns den Beweis Schwarz auf Weiß geliefert.

Jedes der WikiLeaks-Dokumente wurde sorgfältig bewertet, um sicher zu stellen, dass ein öffentliches Interesse an seiner Enthüllung besteht. Von den mehr als 250.000 Dokumenten in ihrem Besitz haben sie weniger als 1.000 veröffentlicht – und von jedem wurden die Namen der Informanten und jede Information, die irgendjemanden gefährden könnte entfernt. Die veröffentlichten Informationen betreffen Bereiche, in denen unsere Regierungen den Willen ihrer eigenen Bürger missachten und die Beweise dafür verbergen. Die Obama-Regierung hat bisher abgestritten, den derzeitigen „Krieg“ auf eine anderes Land, nämlich Jemen ausgeweitet zu haben. Jetzt wissen wir, dass das eine Lüge ist. Der jemenitische Diktator Ali Abdulah Saleh prahlt in diesen Depeschen gegenüber einem Diplomaten der Vereinigten Staaten von Amerika: „Wir werden weiterhin sagen, dass es unsere Bomben sind, nicht eure.“ Der Experte für Aufständischenbekämpfung David Kilcullen, bis vor kurzem Berater von General Petraeus im Irak schätzt, dass sie für jeden Jihadi, der in diesen Bombenüberfällen getötet wird, fünfzig unschuldige Menschen töten. Wie würden wir reagieren, wenn so etwas hier in Großbritannien vorkäme? Wie viele von uns würden vor Verzweiflung aus dem Häuschen geraten und sich entschließen, dagegen zu kämpfen, sogar auch gegen die Frauen und Kinder der anderen Seite? Bombardieren, um den Jihadismus zu beenden ist wie Rauchen, um Lungenkrebs zu beenden – eine Behandlung, die die Krankheit verschlimmert.  

Die Regierungen der Vereinigten Staaten von Amerika und des Vereinigten Königreichs sagten uns, dass sie in den Irak unter anderem deshalb einmarschiert sind, weil sie entsetzt darüber waren, dass die irakische Regierung ihre eigenen Bürger folterte. Tony Blair sprach oft von „Saddams Folterkammern,“ wenn er für den Krieg argumentierte. Diese durchgesickerten Dokumente zeigen, dass, nachdem unsere Regierungen die Macht übernommen hatten, die Politik der Folterungen mit Verbrennungen und Stromstößen und die Vergewaltigungen von Menschen wieder begannen – und diese ganz bewusst nichts dagegen unternahmen oder Untersuchungen durchführten. Der moderne Jihadismus wurde geboren in den Folterkammern Ägyptens in den 1950er Jahren. Ein vielfach größeres Ausmaß wird in den Folterkammern von Bagdad seit 2003 entstanden sein. Einiges davon ist bereits auf unseren Straßen explodiert – der versuchte Bombenanschlag auf den Flughafen von Glasgow wurde von Irakern durchgeführt, die angaben, sich gegen den Einsatz der Folter in ihrem Land „zu wehren.“ Da wird noch mehr kommen.

Die Depeschen lassen erkennen, wie diese Verzweiflung und mörderische Wut über die muslimische Welt verbreitet wird, während wir das abstreiten. Hier nur ein Beispiel. Truppen der Vereinigten Staaten von Amerika jagten ein afghanisches Dorf namens Azizabad in die Luft und töteten 95 Menschen, davon 50 Kinder. Niemand von diesen gehörte al Qaeda oder den Taliban an. Sie wussten genau, was sie getan hatten – dennoch blieben sie in der Öffentlichkeit dabei, sie hätten „Militante“ getötet und beschuldigten sogar die lokalen afghanischen Dorfbewohner, „Beweise wie etwa Gräber gefälscht zu haben.“

WikiLeaks hat eine erschreckende Gleichgültigkeit unserer Regierungen gegenüber den Risiken ans Licht gebracht, denen wir in steigendem Ausmaß ausgesetzt werden. In der Tat zeigen die Dokumente, dass die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika weiß, dass Saudiarabien „die bedeutendste Quelle für die Finanzierung sunnitischer Terroristengruppen auf aller Welt ist,“ aber unsere Führer halten weiterhin (sprichwörtlich) Händchen mit ihnen, weil das Öl in ihren Pipelines in unsere Richtung fließt. Sie zeigen auch eine verblüffende Verachtung für die Demokratie: als der honduranische Präsident Manuel Zelaya von einer Clique von Rechtsextremisten entführt wurde, weil er die Mindestlöhne erhöht und Reichtum zu den Armen umverteilt hatte, bestätigte die Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika hinten herum, dass das „eindeutig illegal“ war. Dennoch weigerte sich die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika, das öffentlich auszusprechen, und drängte statt dessen auf eine „Aussöhnung“ mit der Junta, die ihre eigenen Diplomaten als „völlig unrechtmäßig“ bezeichnet hatten.

Für Großbritanniens Politiker bringen die Dokumente einen lange schon fälligen Schlag ins Gesicht. Mehrere aufeinanderfolgende Regierungen aller Parteien unterstützten diese destruktive Politik der Vereinigten Staaten von Amerika, weil sie glauben, dass wir Einfluss auf die Amerikaner haben. Diese Depeschen zeigen allerdings, dass die Amerikaner sie und ihre Speichelleckerei buchstäblich auslachen und ihre Unterwürfigkeit in höhnischen Tönen in den Meldungen nachhause beschreiben – „es wäre lustig, wenn es nicht so ätzend wäre.“

Die meisten Menschen in den Vereinigten Staaten von Amerika und im Vereinigten Königreich sind gegen diese Politik. Wir sind besser als unsere Politiker. Diese – und die Gefahr, die von ihnen für unschuldige Menschen in der ganzen Welt ausgeht, uns eingeschlossen - können wir aber nur aufhalten, wenn wir darüber informiert sind. Assange hat das möglich gemacht, und dabei seine Freiheit und sein Leben aufs Spiel gesetzt. Es ist also ein Schritt, der unsere nationale Sicherheit verbessert. Natürlich gibt es Leute, die behaupten, er habe „Blut an seinen Händen“ – aber wo sind die Beweise dafür? Vor Monaten sind die ersten Dokumente veröffentlicht worden, und sie haben nicht eine Person gefunden, die auch nur bedroht worden wäre infolge der Veröffentlichungen – außer Assange selbst, dessen Tod von vielen führenden amerikanischen Politikern gefordert wird. 

Es entbehrt nicht der Ironie, wenn man sieht, wie Leute, die buchstäblich tagtäglich unschuldige Zivilisten bombardieren, einen Mann, der in seinem Leben noch nie eine Waffe angegriffen hat beschuldigen, „Blut an seinen Händen“ zu haben. WikiLeaks hat niemanden verletzt. Sie haben sensitive Namen geändert. Sie haben alle Dokumente zurückgehalten, die jemanden einer Gefahr aussetzen hätten können. Sie baten das Pentagon, ihnen zu helfen und ihnen zu erklären, wo sie eventuell eine Gefahr sehen – und wurden abgewiesen.

Es ist natürlich möglich, dass Julian diese gute, noble Sache betrieben hat, und auch ein Vergewaltiger ist. Ich glaube nicht an das reflexive nicht ernst Nehmen von Vergewaltigungsvorwürfen von Frauen unter allen Umständen. Bill Clinton war das Opfer einer rechten Schmutzkampagne und viele von uns nahmen die Anschuldigungen wegen sexueller Vergehen gegen ihn nicht ernst – aber jetzt, Jahre später, hat eine der Frauen, die damit an die Öffentlichkeit gingen, Kathleen Willey, keine Profite aus ihren Beschuldigungen geschlagen, ist noch immer eine linke Demokratin und ihre Klage scheint sehr plausibel zu sein.  

Hier ist das, was wir wissen. Es gibt eine lange Geschichte der CIA, in bösartiger Weise Menschen zu verleumden, welche es wagen, den Weg der Staatsmaschinerie der Vereinigten Staaten von Amerika zu kreuzen. Es kann sehr leicht sein, dass die Beschuldigungen Assanges ein neues Beispiel dafür sind. Aber es gibt auch eine lange Geschichte von bewundernswerten Männern, die sich nachträglich als Vergewaltiger herausgestellt haben, und auch das ist in diesem Fall möglich. Das sollte von einem ordentlichen Gericht festgestellt werden – und dieses Verfahren sollte sehr aufmerksam beobachtet werden, um sicher zu stellen, dass es nicht durch Schmiergelder oder Drohungen manipuliert wird.  

Was immer dabei herauskommt, wir werden nie die gewichtigen Wahrheiten aus unseren Köpfen herausbekommen, die uns Julian Assange zugänglich gemacht hat. Die hysterischen Vertreter der Staatsmacht, die ihn als „Terrorist“ hinstellen, sollen das den gefolterten Irakern, den terrorisierten honduranischen Demokraten und den bombardierten Jemeniten erzählen, deren Geschichte er – endlich – aus der abgeschirmten Welt der Top-Secret-Depeschen herausgeholt hat.

 
     
  Erschienen am 8. Dezember 2010 auf > The Independent > Artikel und > www.johannhari.com > Artikel  
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