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  Glaube an die Gewalt, auf dass du gerettet wirst

Robert C. Koehler

Vor einem Dutzend Jahren, vor 9/11, vor Bush junior und dem Krieg gegen den Terror, bombardierte Bill Clinton, damals mitten in den Hearings rund um sein Impeachment, vier Tage lang den Irak. Kurz vor diesem Akt nationaler Ablenkung las ich einen Artikel in der Chicago Tribune, in dem mit dem Wissen um die amoralische Dummheit der Massenmedien die internationalen Auswirkungen der bevorstehenden Aktion diskutiert wurden.

Für mich wurde der Artikel unsterblich durch das folgende Zitat eines anonymen jordanischen Funktionärs, das den Zynismus der Weltpolitik und die Art und Weise, wie Nationalstaaten funktionieren, auf den Punkt brachte: „Sehen Sie, niemand hier mag Saddam, aber die Menschen werden keine Freude haben, wenn sie im TV sehen, dass irakische Babies sterben.“

Der Artikel enthielt keinerlei Kritik an dieser Aussage, die nur angeführt worden zu sein schien, um den gehobenen Ansprüchen unseres Medienkonsums Genüge zu tun. Die Idee dahinter war, zumindest erschien mir das so, die Leser behutsam in das Wissen einzuführen, damit sie zumindest so tun konnten, als würden sie wie wichtige Politiker die problematischen politischen Auswirkungen einer kriegerischen Handlung abwägen, ehe sie im Namen der nationalen Sicherheit zu morden beginnen.

Wenn wir gegen den Krieg sind, wenn uns jede Nuance und jedes Detail, das wir mitbekommen, in Schrecken versetzt, wenn wir uns weniger vom „Wissen“ und den „gehobenen Ansprüchen“ beeindrucken lassen, während die Tage vergehen und die Maschinerie des Imperiums alles niederwalzt – wenn wir den Krieg aus erster Hand erfahren haben und die Grausamkeit des industrialisierten Mordens losgelöst von seinen Rechtfertigungen gefühlt – und wenn wir von diesem Schrecken getrieben werden, sagen wir, illegal am Zaun des Weißen Hauses dagegen zu protestieren und wie Thoreau, Gandhi, King uns für unsere Überzeugung einsperren zu lassen, ist dieser Zynismus unser Dilemma.

Über die 131 Menschen, die das vor einer Woche taten – Mitglieder der Veteranen für den Frieden und Code Pink, Daniel Ellsberg, der ehemalige CIA-Analyst Ray McGovern, die ehemalige FBI-Agentin Coleen Rowley, der Journalist Chris Hedges – wurde in unseren anspruchsvollen, sterbenden Medien kaum berichtet, die mit dem Zynismus der Wissenden viel leichter umgehen können als mit einem moralischen Aufschrei. Das bremst und bringt die Dynamik der Veränderung letztlich ins Stocken.

Die überladene Welt unserer Zeit, die uns die Medien verzweifelt 24/7 (24 Stunden 7 Tage in der Woche) um die Ohren schlagen, hat keinen spirituellen Tiefgang. Dessen ungeachtet sagen jetzt rund 60 Prozent der Amerikaner laut einer vor kurzem durchgeführten Erhebung von ABC/Washington Post, dass der Krieg in Afghanistan „es nicht wert war“; seit Juli ist diese Zahl um 7 Prozent gestiegen.

„Mir sind die Bedenken der Öffentlichkeit bewusst und ich verstehe sie,“ sagte Außenministerin Hillary Clinton in einer Reaktion auf diese schwindende Zustimmung, „aber ich glaube nicht, dass Führer, und sicher nicht dieser Präsident Entscheidungen über Leben und Tod und die zukünftige Sicherheit unseres Landes auf der Grundlage von Meinungsumfragen treffen werden.“

Während ihre Worte so vernünftig und angebracht klangen, dachte ich gerade hier an das Zitat von den „toten Babies“ und wie die Eingebildetheit der repräsentativen Regierung beschaffen sein muss, damit sie die Leidenschaft der Massen daran hindert, die Politik zu bestimmen. Dennoch ist „der Mob“ das Reservoir humaner Empathie und der pulsierende Ozean unserer Entwicklung. Wenn es in Richtung Krieg geht, ist vielleicht „der Mob“ die einzige Stimme der Zurückhaltung und Besinnung auf das Gemeinwohl. Die „Führer,“ isoliert in ihrem Dienst an dem Status Quo der Wirtschaftskonzerne, in Versuchung geführt von der Macht, über die sie gebieten, sind diejenigen, die inhumane Handlungen begehen. Derlei Handlungen entspringen viel öfter rationalen Überlegungen als einer Leidenschaft oder einem grundlegenden Bedürfnis.

„Muss der Bürger je für einen Moment, oder letztendlich überhaupt sein Gewissen an den Gesetzgeber abtreten? Warum hat dann jeder Mensch ein Gewissen? Ich denke, wir sollten zuerst einmal Menschen sein und erst dann Subjekte.“

Das schrieb Henry David Thoreau in seinem Essay “Über den zivilen Ungehorsam,” zitiert von Ray McGovern vor ein paar Tagen in einem Artikel, in dem er über seinen eigenen Akt bürgerlichen Ungehorsams schrieb. Unsere einzige Hoffnung ist das menschliche Gewissen, individuell und unbeherrschbar, dennoch verbunden mit dem Wesen dessen, wer und was wir sind, während die Entscheidungen von politischen Führern – die nicht „Entscheidungen über Leben und Tod ... auf der Grundlage von Meinungsumfragen treffen“ –nur zu oft nur von den Interessen abhängen, die sie repräsentieren.

Indem ich über das alles nachdachte, dachte ich auch an den Theologen Walter Wink und an das, was dieser als den Mythos der erlösenden Gewalt bezeichnet: den simplifizierenden Glauben an das unbestechliche Gute und das untilgbare Böse, gefangen in einem Teufelskreis von Schlächterei und Kollateralschaden. Dieser Mythos, schreibt Wink, ist die dominierende Religion der Gesellschaft, zumindest so alt wie das antike Babylon, so aktuell wie die Cartoons in der Samstagszeitung. Er steht für Weisheit in Politik und Popkultur – und ist das, wogegen die Demonstranten vor dem Weißen Haus am 17. Dezember und vielleicht sogar die Befragten bei der Umfrage von ABC/Washington Post ihre Stimme erhoben.

Gemäß dem babylonischen Mythos, so erklärt Wink, wurde das Universum geschaffen in einem Kampf der Götter gegeneinander, in einem Akt urtümlicher Gewalt. Dadurch wird unser natürliches Wesen durch den Krieg bestimmt. Daher sind menschliche Wesen, wie Wink schreibt, „naturgemäß nicht fähig, friedlich zusammen zu leben. Die Ordnung muss uns fortwährend von oben auferlegt werden: Männer stehen über Frauen, Herren über Sklaven, Priester über Laien, Adelige über Bauern, Herrscher über dem Volk.“

Dieser Mythos stülpt eine toxische Sicherheit über alle, die ihm anhängen – eine Immunität, könnte man sagen, gegenüber „toten Babies“ und allem, was in Mitleidenschaft gezogen wird im Namen des Guten, das getan wird. Er hat uns an den Scheideweg gebracht, an dem wir jetzt stehen. Die Zeit ist gekommen, dass wir uns darüber hinwegsetzen und unserem Gewissen folgen. 

 
     
  Erschienen am 23. Dezember 2010. Robert Koehlers Artikel erscheinen u.a. bei HUFFINGTON POST und www.antiwar.com  
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