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  Ignorante Sicherheit

 

Robert C. Koehler

 

Jetzt, wo die Welt nicht untergegangen ist, kann ich nicht aufhören, darüber nachzudenken. Was für eine Chuzpe, was für eine eingeschränkte Weltsicht braucht es, um nicht nur eine derartige Vorhersage zu machen, sondern – und das ist für meinen ruhelos fragenden Verstand besonders unverständlich – zu wissen, dass du unter den Geretteten sein wirst.  

Im Jahr 1011 hätte einer wie Harold Camping wahrscheinlich mehr Panik als Verwirrung stiften können. Ein Jahrtausend später, wo wir in öffentlichen Schulen Wissenschaft und das alles gelernt haben, haben wir ein bisschen mehr kollektive Resistenz gegen eine derart donnernde Gewissheit, die uns von Werbetafeln neben der Autobahn entgegenspringt. Ich gestehe allerdings, am vergangenen Freitagmorgen tief in mir ein reptilienhaftes Ziehen verspürt zu haben, als ich das Zeichen sah – MERK DIR DAS DATUM 21. MAI 2011, DA KOMMT CHRISTUS – während ich durch den Osten von Wisconsin fuhr. Huch, das ist ja morgen!   

Was für mich bleibt in den Nachwirkungen von „das Leben geht weiter (zumindest eine Zeit lang)“ ist ein alarmierter Sinn für die Macht der ignoranten Sicherheit. Fanatische Prediger sind nicht mehr als die Karikatur dieser Macht, die, jetzt im Jahr 2011, wie ein Virus in der amerikanischen Politik gedeiht. 

„Heute präsentierten wir eine Gesetzgebung, die die Ziele unserer nationalen Sicherheit fördert, die geeignete Pflege und Unterstützung für unsere Streitkräfte vorsieht und uns hilft, den Herausforderungen an unsere Verteidigung im 21. Jahrhundert gerecht zu werden.“

Also sprach der Abgeordnete zum Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten von Amerika Howard P. „Buck“ McKeon (Republikaner, Kalifornien), Vorsitzender des Ausschusses für die bewaffneten Kräfte, in einer Presseaussendung vor zwei Wochen, in der er die Zustimmung des Ausschusses zum Nationalen Budgetplan für Verteidigung für das Finanzjahr 2012 bekannt gab – welcher Maßnahmen vorsieht, die dermaßen alarmierend sind, dass er von David Swanson als „die wohl schlimmste Vorlage, die je als Gesetzesentwurf eingebracht wurde“ bezeichnet wurde und sogar Anlass zu einem Leitartikel in der New York Times gab. 

Unter den unerhörten Bestimmungen in den Entwürfen, die für die Abstimmung vorgesehen sind, befinden sich, wie Swanson und viele andere ausgeführt haben, eine Einschränkung bei der Einführung des neuen START-Abkommens und ein Stillstand bei der Reduzierung der Atomwaffen, was die Zahl unserer Atomwaffen auf dem Stand des Kalten Krieges belässt, eine Gesamtzuwendung von $690 Milliarden für die Ministerien für Verteidigung und Energie (darunter $119 Milliarden für die Finanzierung der verheerenden Kriege in Irak und Afghanistan, $18 Milliarden für die weitere Erforschung und Entwicklung von Atomwaffen, sowie die Finanzierung verschiedener anderer höchst fragwürdiger Waffenprogramme und –systeme), und Mittel für die unbefristete Anhaltung von derzeitigen und zukünftigen Gefangenen in Guantánamo.

Das Große, Schreckliche an diesem Gesetzesentwurf – das eine neuere, tiefer gehende Irrationalität aus den Abgründen unserer kollektiven Paranoia beschwört – ist die Bestimmung, die den „Krieg gegen den Terror“ nach Gutdünken des Präsidenten auf die ganze Welt ausweitet.

Im Leitartikel der New York Times hieß es: „Osama bin Laden war nur einige Tage tot, als Republikaner im Kongress mit ihren Bemühungen loslegten, den Krieg gegen den Terror auszuweiten, statt diesen einzuschränken. Nicht zufrieden mit den weitreichenden Befugnissen des Präsidenten, die Erzkriminellen des 9/11 zu verfolgen, wollen die Republikaner dem Militär die Vollmacht erteilen, praktisch jeden des Terrorismus Verdächtigen zu verfolgen, auf der ganzen Erde, von jetzt bis an das Ende der Zeit.“  

Der Entwurf umgeht den Kongress und die Verfassung und würde es der Regierung erlauben, rein aus eigenem Ermessen Krieg zu führen. „Er würde militärische Angriffe gestatten nicht nur gegen al Qaeda und die Taliban,“ schreibt die New York Times, „sondern auch gegen alle ‚damit in Verbindung stehenden Kräfte, die an feindlichen Handlungen gegen die Vereinigten Staaten von Amerika beteiligt sind.’“ Er autorisiert, mit seiner entsetzlich unklaren Sprache, eine Art von globaler greifbarer Vorsehung.

Und das bringt mich zurück zur Idee der ignoranten Sicherheit – einer Sicherheit hinsichtlich der Frage, wer leben sollte und wer sterben – welche als treibende Kraft nicht nur hinter religiösem Fanatismus steht, sondern, noch viel gefährlicher, hinter der Politik des Imperiums.

Die ignorante Sicherheit des Harold Camping ist dem Wesen nach harmlos. Er rief seine Gläubigen nicht dazu auf, vermutete Sünder in die verdienten Wüsten in der Ewigkeit zu befördern, sondern sich darauf zu verlassen, dass Gott das selbst machen würde. Die ignorante Sicherheit der politisch Mächtigen überlässt jedoch nichts Gott. Das Töten erfolgt auf ihren Anstoß hin und nach ihrem Ermessen – und es findet wirklich statt. 

Das ist Krieg, und der ist in Demokratien ebenso dynamisch gediehen wie in Autokratien. Es könnte sogar gesagt werden, dass die Demokratisierung von Krieg und Ehre, die Beförderung von jedermann vom Knappen zum Ritter, die Flammen des Krieges angefacht hat. Man halte sich die Geschichte des 20. (und des ersten Jahrzehnts des 21.) Jahrhunderts vor Augen. Demokratische Regierungen waren verantwortlich für einen hohen Prozentsatz an der Schlächterei, die durch moderne industrielle Kriege verursacht wurde, während sie sich im Großen und Ganzen für tadellos hielten.

Und die Vereinigten Staaten von Amerika, die originale Demokratie, budgetieren jetzt rund zwei Drittel ihrer Energie und Reichtümer für Krieg und Verteidigung. Mit der Erfindung des „Kriegs gegen den Terror“ – eines Begriffs, der so vage und sinnlos ist wie „Krieg gegen das Böse“ oder „Krieg gegen die Sünde“ – fanden die wahren politischen Anhänger und die wirtschaftlichen Nutznießer des Krieges einen Weg, um das Spiel bis in die Unendlichkeit weiter zu betreiben. Der Beschluss des Nationalen Budgetplans für Verteidigung 2012 soll die gesetzlichen Voraussetzungen schaffen, den „Terror“ von den Attacken des 9/11 zu trennen und die Zukunft des Krieges zu garantieren, nur auf Kosten der Seele des Landes. 

Etwas scheint an sein Ende zu kommen. Es ist nicht die Welt, nur das, was übrig ist von der amerikanischen Demokratie. Einst ein interessantes Experiment des gesunden menschlichen Verstandes, könnte es dessen inneren Kräften der Angst und der Gier nicht gewachsen sein.

 
     
  Erschienen am 26. Mai 2011. Robert Koehlers Artikel erscheinen u.a. bei HUFFINGTON POST und www.antiwar.com  
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