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Panettas Ausrutscher

Robert C. Koehler

Auf seinem ersten Besuch als Verteidigungsminister im Irak am vergangenen Wochenende bescherte uns Leon Panetta einen Bush-Moment – zehn Jahre zu spät.

„Der Grund, warum ihr Männer hier seid, ist weil die Vereinigten Staaten von Amerika am 9/11 angegriffen worden sind,“ sagte er vor den versammelten Truppen in Camp Victory in Bagdad laut Washington Post. „Und 3.000 Amerikaner – 3.000 nicht nur Amerikaner, 3.000 Menschen, unschuldige Menschen – wurden getötet wegen al-Qaida. Und wir sind deswegen in den Kampf gezogen.“

Ja, schon gut, Ausrutscher, Herr Minister, stimmt´s? Die Irak – al-Qaida-Geschichte ist schon lange aus dem Geschichtenbuch heraußen, und Panettas Assistent musste danach die Angelegenheit bereinigen und dafür sorgen, dass niemand die Bemerkungen des Chefs missinterpretierte als Wiedereröffnung einer alten „Debatte“ über eine schon lange verworfene Lüge. 

Im Prinzip sagte Panetta die beschämende Wahrheit: 9/11, der Tag unsagbarer Tragödie, war eine Goldmine für das Pentagon und die Kriegsinteressen der Konzerne und wurde schnell benutzt, um zwei Kriege anzufangen, die schon lange keiner Rechtfertigung mehr bedürfen und nicht mehr brauchen als das erste Gesetz der Physik, um in Bewegung zu bleiben. Ihr Männer seid hier wegen 9/11, der tragischen Universalrechtfertigung für globale Hegemonie und Streben nach dem Weltreich.  

Natürlich versuchte Panetta zu begeistern. Das ist es, was fehlt bei Obamas Spielplan: der gute alte Patriotismus, den die Bushregierung ausmolk, bis die Kuh tot zusammenbrach. Der neue Verteidigungsminister fühlte offensichtlich ein Bedürfnis, eine Verbindung zu den Soldaten herzustellen und ihre Leidenschaft zu wecken, oder so, also griff er ein Jahrzehnt zurück in die Vergangenheit und zog das verdreckte Juwel des amerikanischen Opfertums hervor, blutverschmiert von Schock und Schrecken-Bombardierungen, Drohneneinsatz, grausamer und arroganter Okkupation und der Heimsuchung des Völkermordes durch massenweise Vergiftung der Länder, die wir befreit haben. 

Ja und Folter – die Folter können wir nicht vergessen, nicht wahr, Herr Minister? Und ich meine beide Arten der Folter, die Abu Ghraib-Guantánamo-Variante, die wir bei verdächtigen schlimmen Kerlen anwenden, und die unsichtbare, PTSD (posttraumatisches Belastungssyndrom), die wir unseren eigenen Soldaten für den Rest ihres Lebens vermachen. 

Es ist so schwer, ein Jahrzehnt nach der Bescherung zu begeistern, ernstzunehmende Dichtung zu berufen und die Herzen von Männern und Frauen zu bewegen, die ihren dritten und vierten Turnus in der Hölle ableisten, besonders wenn die Dichtung, die aus der Kampfzone kommt, dermaßen mit bitterer Wahrheit durchsetzt ist:  

 

… der junge Soldat denkt

an den explodierten Körper, den er gesehen hat,

an der Wand eines Hauses,

die Knochenstücke

in die Mauer eingedrückt.

„Wir lachten über den toten Hadschi,

der sich selbst in die Luft gejagt hat,“ sagte er.

„Du lachst darüber, du weinst darüber,

oder du sagst nichts und wirst verrückt.“

 

Das ist ein Ausschnitt aus einem Gedicht mit dem Titel „Property Damage” („Eigentumsschaden“) von Buff Whitman-Bradley, das ich von einem Freund bekommen habe. Whitman-Bradley, der Produzent des „Courage to Resist“ („Mut zum Widerstand“) Audioprojektes (2007-2009), interviewte zahlreiche Soldaten, die durch den Krieg geschädigt worden sind, von denen viele Selbstmord begangen oder daran gedacht haben. 

„Ich beendete jedes Interview mit großem Respekt für den jungen Soldaten, mit dem ich gerade gesprochen hatte,“ schrieb er in PM Press. „Das waren tapfere, kluge Leute, bereit, über die offiziellen Begründungen für den Krieg hinaus und dahinter zu blicken; bereit, große Risiken auf sich zu nehmen, wenn sie zum Schluss kamen, dass sie nicht mehr länger an Kriegen teilnehmen konnten, die sie als illegal und unmoralisch betrachteten.“ 

Panetta beschwor einen Tag der Trauer und des Leids, der so in den Dreck gezogen worden ist, dass er nicht wieder zu erkennen ist. Der Tag wurde nicht so sehr zu einem Tag der Rache, sondern der Werbegags, gut genug, um Unterstützung hinter die Agenda der Neokonservativen zusammenzutreiben und diese in einen Zustand zu überführen, der als gegeben hingenommen und akzeptiert wird. Ein Jahrzehnt danach haben die Kriege dieser Agenda die Tode und Leiden des 9/11 um das Hundertfache, wenn nicht um das Tausendfache vermehrt.

Besonders schrecklich ist, dass die Vereinigten Staaten von Amerika Ökozid in Irak und Afghanistan und anderswo begangen haben und weiter begehen, indem sie rücksichtslos giftige Substanzen wie abgereichertes Uran einsetzen und Wasservorkommen damit verseuchen und Wälder und Feuchtgebiete schädigen. Der ständige Verkehr von Militärfahrzeugen hat die Wüstendecke zerbrochen, Sandstürme verstärkt und die Verbreitung giftiger Stoffe begünstigt. 

Vor einem Jahr veröffentlichte das International Journal of Environmental Research and Public Health (Internationale Zeitschrift für Umweltforschung und Öffentliche Gesundheit) die epidemiologische Studie „Cancer, Infant Mortality and Birth Sex-Ratio in Fallujah, Iraq 2005-2009“ („Krebs, Kindersterblichkeit und Verhältnis zwischen Geburten und Geschlecht in Fallujah, Irak 2005-2009“), die herausfand, dass die irakische Stadt, die von zwei Überfällen der Vereinigten Staaten von Amerika verwüstet wurde, höhere Quoten von Krebs, Leukämie und Kindersterblichkeit aufweist als Hiroshima und Nagasaki 1945. Missgeburten nehmen ständig zu.

Panetta versuchte, sich um das alles herumzudrücken und am letzten Wochenende ein bisschen mehr Kriegspropaganda aus den Toden von „3.000 Menschen, unschuldigen Menschen“ herauszuquetschen.

Im Gefolge seiner Worte fühle ich einen schweigenden Aufschrei aufsteigen von den unschuldigen Opfern des 9/11 und seiner Nachwirkungen – einer Million oder mehr – unsere Werte neu zu ordnen, das Kämpfen einzustellen, den Kurs der Menschheit zu ändern.

 
     
  erschienen am 13. Juli 2011 auf COMMONWONDERS.COM und HUFFINGTON POST > Artikel  
  s. dazu auch > Robert C. Koehler - Das Leiden Fallujahs  
     
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