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  Die aufgegebene Klasse

 

Wird Occupy Wall Street lange genug zusammenhalten, um bis in das Wesentliche vorzudringen?

Wird es eine Stimme finden, die nicht nur die schlimme Situation der sich abkämpfenden Mittelklasse artikuliert, sondern die Ungerechtigkeit und den Rassismus, die der unentrinnbaren Armut innewohnen? „Jeder ist wichtig“ stand auf dem Transparent eines älteren Demonstranten zu lesen. Mein Gott, wenn das wahr wäre? Was, wenn wir, während die aufgegebene Klasse durch die Mangel gedreht wird, jedermanns Zukunft sehen könnten, die der 99 Prozent und die des 1 Prozent?  

Lassen wir die Occupy-Bewegung zu einer derartigen Vereinigung von Stimmen werden, dass sie das verkommene Spiel der amerikanischen Demokratie erreicht und verändert, dass sie das allgemeine Versagen des Systems in allen seinen Erscheinungsformen – vom Zusammenbruch der Umwelt bis zu unseren verlorenen Kriegen und der Hybris des Imperiums bis zur Gewalt auf unseren Straßen – in die vorderste Reihe unserer Medien bringt und unseres Gewissens. Lassen wir die Bewegung zum ersten Beben eines neuen Empfindens werden, das niemanden seiner Menschenwürde beraubt. 

Dieses Empfinden ist schon seit langer Zeit im Entstehen. Ich vermute, dass ich nicht der einzige bin, der immer wieder auf Ideen und Idealisten stößt, die Teil der Bewegung zu sein scheinen, auch wenn sie ihr Augenmerk nur auf einen kleinen, besonderen Teil der Welt richten, den sie in ihrem Leben ändern wollen, der vordergündig nichts mit Wall Street oder Politik zu tun hat. Könnte es sein, dass unsere Lösungen sich miteinander verbinden?   

Zum Beispiel nahm ich vor kurzem teil an der 25-Jahr-Feier der Christian Peacemaker Teams (Christliche Friedensstifter-Teams) in Chicago. Einer der Vortragenden, Elce Redmond, ein Aktivist im Stadtteil South Austin, sprach über Bestrebungen, an deren Organisation er beteiligt war, um die Gewalt von Banden in verschiedenen Schulen einzudämmen. Die dort wohnenden Peacemakers traten an den Schulen nicht als eine Art Sicherheitskräfte auf, um sich in einer wir-gegen-sie-Solidarität gegen Teenager aus der Nachbarschaft zu stellen, sondern als Unterbrecher der Gewalt, etwa in der Art eines Waffenstillstands, verwickelten die jungen Menschen aktiv in Gespräche und brachten eine beruhigende Bewusstheit in unberechenbare Situationen. 

„Viele der jungen Menschen wollten nicht kämpfen, hatten aber das Gefühl, das sei der einzige Weg, um den Konflikt zu lösen,“ sagte Redmond. „Wir hielten Konfliktlösungsstunden in der High School. Wir beschlossen, eine Friedensbrigade der Jugend aufzubauen.“

Es war jedoch eine besondere Geschichte, die er erzählte – die von einem kurzen, emotionsgeladenen Zusammenstoß mit einem jungen Buben an der Elementarschule, damals mit seiner Mutter – die mich eine Verbindung herstellen ließ mit den Occupy Wall Street-Protesten im ganzen Land und den amerikanischen und globalen Finanzhaien, gegen die sie sich richtet.

Der Bub war dabei, eine Straße in der Nähe der Schule zu überqueren, erzählte Redmond. Als er zu dem Buben sagte, er solle den Zebrastreifen benützen, zu seiner Sicherheit, wurde der Bub wild und beschimpfte ihn. Dann ging er nachhause und kam mit seiner Mutter zurück, die ebenfalls eine Schimpfkanonade gegen Redmond losließ, dessen einziges Interesse darin bestanden hatte, ihren Sohn sicher zu halten. Er sagte nichts, als sie ihn beschimpfte, außer dass sie in Gegenwart eines Kindes nicht so reden solle. Sie ging zurück nach Hause.

Das ist noch nicht das Ende der Geschichte. Einige Zeit später, sagte Redmond, sah er die Mutter wieder, und dieses Mal entschuldigte sie sich bei ihm. Sie sagte, dass sie an dem Tag, wo sie gegen ihn losgegangen war, eine Zwangsräumung hinter sich hatte und eine Reihe von Einschränkungen vor sich. Sie war außer sich vor Sorgen und hatte ihre Fähigkeit zu normalem Umgang verloren, und konnte nur noch wild um sich schlagen.

Als ich diese Geschichte hörte, dachte ich, dass wir aufhören sollten, Statistiken darüber zu verbreiten, wie viele Amerikaner „in Armut leben,“ als wäre Armut ein stabiler Zustand eingeschränkter Möglichkeiten, und nicht ein ständiger, tagtäglich neuer Kampf um das bloße Überleben, wie Leben im Treibsand.

Mit anderen Worten, „Armut“ heißt endgültige Unsicherheit, und mit dieser verflucht zu sein – zur aufgegebenen Klasse zu gehören – heißt, dass du kaum eine Chance hast, dir für dich und deine Kinder eine stabile Zukunft vorzustellen, geschweige denn diese zu planen, und dass darüber hinaus diese Unsicherheit ansteckend ist. Die Gefühle der Menschen sind ständig in Alarmbereitschaft. Große Zahlen verzweifelter Menschen destabilisieren Wohngebiete und strahlen Furcht in die abgeschlossenen Wohnsiedlungen der besser Gestellten. Wir können so nicht leben. Niemand von uns kann das. 

„Während viele der alten Zentren der Ungleichheit in Lateinamerika, wie etwa Brasilien, sich in den letzten Jahren ziemlich erfolgreich bemüht haben, die Not der Armen zu verbessern und die Einkommensunterschiede zu verringern, hat Amerika es zugelassen, dass die Ungleichheit zugenommen hat,“ schrieb der Wirtschaftswissenschaftler Joseph Stiglitz im Mai in einem vorausschauenden Artikel für Vanity Fair unter dem Titel „Aus den 1%, von den 1%, für die 1%.“

Er schrieb weiters, indem er Alexis de Tocquevilles Erkenntnis zitierte: „Jeder hat Eigeninteresse in einem engen Sinn: ich möchte haben, was gerade jetzt gut für mich ist! ‚Richtig verstandenes’ Eigeninteresse ist etwas anderes. Es bedeutet anzuerkennen, dass die Beachtung des Eigeninteresses eines jeden anderen – in anderen Worten des gemeinsamen Wohlergehens – in der Tat letztlich die Voraussetzung bildet für das eigene Wohlergehen.“

Das gemeinsame Gute und der Gemeinsinn sind in den letzten drei Dekaden auf dem Altar der Profite der Konzerne geopfert worden. Zumindest hat diese Entwicklung eine Gegenkraft hervorgerufen, da mehr und mehr Menschen wieder den öffentlichen Bereich besetzen und eine landesweite Änderung fordern. Jetzt gehören wir alle zu der aufgegebenen Klasse.

 
     
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