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  Wie Krieg jeden entmenschlicht, mit dem er in Berührung kommt

Paul Tritschler

 

Alle Handlungen des Massenmordes sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit und erfordern insgesamt eine allgemeine Herabwürdigung anderer Menschen.

Bei einem kürzlichen Besuch eines meiner Lieblingsorte in London, [der Buchhandlung] Gloucester Books, blätterte ich durch die gebrauchten Taschenbücher und alten Zeitschriften, die in der Sonne blichen. Der Leitartikel in einem National Geographic Magazine erinnerte an die Mannschaften der US Eighth Army Air Force und ihr Durchhalten und ihre Opfer im Zweiten Weltkrieg. Daran ist nichts ungewöhnlich, aber die Ehre galt auch ihren Bombenangriffen auf deutsche Städte. Die Geschichte handelte hauptsächlich von den ehemaligen Piloten und zeigte Fotos von jungen Männern, die zu ihren Flugzeugen liefen, winkten und lächelten, als sie einstiegen, wobei jeder eine auf die Seite des Flugzeugs gemalte Illustration eines PinUp-Girls mit rote Lippen der Vierzigerjahre anfasste, um Glück zu haben.

Die Männer, deren Haare ergraut waren, erschienen freundlich und wohlwollend, umso mehr aufgrund ihres verständlicherweise emotionalen Wiedersehens. Auch der Leitartikel war freundlich. Darin stand, dass deutsche Zivilisten bedauerlich aber entschuldbar getötet wurden im Zuge von ‚chirurgischen’ Bombenabwürfen, die legitimen feindlichen Zielen galten, die nahe bebauten Wohngebieten gelegen waren. Es klang vertraut, und traurig, und allzu aktuell. Ich legte die Zeitschrift angewidert auf den Stoß zurück.

Ich dachte an die Lancaster-Bomber, die durch den nächtlichen Himmel donnerten, Welle auf Welle, die eine bösartige Alchemie über Hunderttausende von Zivilisten ausspuckten – die Alten, die nicht laufen konnten, die Kinder, die sich an ihre Spielsachen klammerten, sie alle gingen in Flammen auf. Und ich dachte an die Kampagne der Entmenschlichung, die bis in die letzten Tage des Krieges anhielt, und die alle unsere Feinde und sogar deren Kinder als minderwertigere Menschen porträtierte.

Diese Kampagne war schwerlich subtil, und der Feind wurde als Käfer dargestellt. In Zeitschriften gab es Cartoons, die Italiener, Deutsche und Japaner zum Teil als Küchenschaben zeigten, und vor den Massenbombardierungen japanischer Städte mit Brandbomben brachte die Zeitschrift der US Marines Leatherneck (Ledernacken) einen Cartoon einer Kreatur, halb-Mensch, halb-Insekt, genannt Louseous Japanicas neben einem Artikel, der forderte, „feindliche Brutstätten komplett zu vernichten.“

In dem auf diesen Artikel folgenden Monat – März 1945 – dröhnten anscheinend endlose Wellen von B-29s über Tokio und warfen eine Million Bomben ab, die 2.000 Tonnen Brandsätze enthielten. In weniger als drei Stunden waren über 100.000 Menschen getötet und eine Million obdachlos. Die Brandbombardierung von 67 Städten in den folgenden fünf Monaten führte zu mindestens 500.000 weiteren getöteten Menschen – eine vorsätzliche Politik der Auslöschung von Zivilisten, die in den dicht besiedelten ärmeren Bezirken lebten. Ohne Reue erklärte der Luftwaffengeneral der Vereinigten Staaten von Amerika Curtis LeMay offen: „Sie wurden zu Tode verbrannt und gekocht und gebacken.“ Obwohl es ihren Eifer nicht beeinträchtigte, sagten Bomberbesatzungen, dass der Gestank brennenden Fleisches hoch in die Luft hinaufstieg und sie zwang, Sauerstoffmasken zu benützen, um nicht kotzen zu müssen. Am Ende dieser fünfmonatigen Periode kam die atomare Zerstörung. 

Der Schriftsteller Kurt Vonnegut – ein Augenzeuge des Angriffs auf Dresden und sein ganzes Leben hindurch tief betroffen durch das, was er als „das größte Massaker in der europäischen Geschichte“ beschrieb – sagte, dass laut dem, was er mitbekommen hatte, die USAF keine Freude mit der Bombardierung deutscher Städte hatte, im Gegensatz zu ihren britischen Partnern, die das irgendwie als Sport betrachteten. Nichtsdestotrotz flogen sie die Angriffe, und weit davon entfernt, militärische Ziele „präzise“ anzugreifen, spielten die Amerikaner eine Schlüsselrolle bei dem Bestreben des Bomberkommandos der RAF, Bevölkerungen durch rund um die Uhr-Bombardierungen zu terrorisieren. 

Über 1.200 alliierte Bomber warfen über 3.000 Tonnen Brandsätze über Dresden ab, tausend Tonnen mehr als in den Angriffen auf Tokio im folgenden Monat abgeworfen wurden. Die offizielle Linie war, dass der Krieg durch die Demoralisierung des Feindes verkürzt wird, die erreicht wird durch die Brandbombardierung von Zivilisten und die Zerstörung ihres gesamten soziokulturellen Lebens: Krankenhäuser, Büchereien, Universitäten, Häuser und Schulen. Während einige einflussreiche Figuren wie George Orwell die Fortsetzung der Bombardierungen forderten, fühlten viele in Britannien mit den deutschen Zivilisten und protestierten dagegen, mit ihnen die Bewohner des schwer bombardierten Bethnal Green: es hat nichts genützt im Großen Krieg, es hat nicht funktioniert im London Blitz, warum sollte es jetzt funktionieren? Trotzdem ging das Bombardieren weiter.

Hamburg, beschrieben als Deutschlands Hiroshima, wo in einer Nacht im Juli 1943 mehr Menschen getötet wurden als im gesamten London Blitz, wurde insgesamt 69 Mal bis zum Ende des Kriegs bombardiert. Die Alliierten steigerten die Intensität der Bombardierungen, nachdem der Krieg so gut wie gewonnen war, mit tausend Flugzeugen, die gleichzeitig über Städte flogen. Über eine Million Bomben wurden in den letzten Monaten des Kriegs auf Deutschland abgeworfen, und die Intensität ging sogar bis in die letzten Wochen weiter. Viele der Bombenangriffe wurden gegen Städte mit großer kultureller, aber geringer militärischer Bedeutung geführt, darunter kleine Städte mit Kathedrale und Universität wie Freiburg. Einige Hinweise auf die Brutalität der Angriffe gibt der Schriftsteller A.C. Grayling:

„Phosphor, Magnesium und eingedicktes oder geliertes Petroleum (das beste Beispiel dafür ist ‚Napalm,’ das 1942 an der Harvard Universität erfunden und später im Krieg von der USAF in Japan eingesetzt wurde) konnten nahezu unmöglich gelöscht werden, spritzten zähflüssig und klebrig über Gebäude und Menschen wie Lava und brannten mit großer Hitze. Menschen, die in Kanäle sprangen, wenn sie von brennendem Phosphor getroffen wurden, endeckten zu ihrem Schrecken, dass dieser sofort wieder zu brennen begann, sobald sie aus dem Wasser gingen. Unter den Brandsätzen verteilt waren 2-Kilogramm-‚X’-Bomben mit einem Verzögerungszünder, die später explodieren sollten, wenn Feuerwehrleute und andere Rettungskräfte am Brandort eingetroffen waren.“

Städte wurden durch den Abwurf tausender „Blockbusters” auf ganze Wohnbezirke zu Anfeuerholz gemacht – Bomben, die ganze Wohnblöcke auseinanderrissen und die Dächer von Gebäuden rissen, so dass die folgenden hoch brisanten Brandsätze ihr Inneres erreichen konnten, darunter auch Schutzräume im Keller. Die Idee war, die Stadt in einen Feuersturm zu hüllen. Unter den eingestürzten Ruinen wurden Familien gefunden, zusammengedrängt in der Mitte von Räumen und sich gegenseitig umarmend in einem letzten Aufbäumen gegen den Tod. Sie sahen aus als wären sie aus Wachs. Der Asphalt in den Straßen fing Feuer und große Gebieten wurde der Sauerstoff entzogen durch die Feuerstürme, die mit über 250 km/h tobten und Zivilisten vor die Wahl stellten, in ihren Kellern zu ersticken oder zu versuchen davonzulaufen – was hieß durch eine Art Hochofen in den so gut wie sicheren Tod zu rennen. 

Augenzeugen berichteten von Erwachsenen, die zur Größe von kleinen Puppen verbrannten, von Armen und Beinen überall, von ganzen Familien, die zu Tode verbrannten, und brennenden Menschen, die aus brennenden Bussen rannten, die gefüllt waren mit zivilen Flüchtlingen und toten Rettungsleuten. Die rapid aufsteigende heiße Luft über den bombardierten Zonen ließ kalte Luft nachdringen, die die Menschen in den eskalierenden Tornado hineinzog. Überlebende berichteten von Menschen, die aufgrund von Sauerstoffmangel an Ort und Stelle zusammenbrachen wie ein Gerät, dessen Stecker aus der Dose gezogen wird, andere wurden hysterisch und rissen sich die Kleider vom Leib, als diese in Flammen aufgingen, und überall waren Menschen hilflos und wurden, was unerklärlich erschienen sein muss, rückwärts und aufwärts in die tobenden Feuerwinde gezogen.

Eine sprach über die Bitte ihrer Mutter, ihre Familie in Sicherheit zu bringen. In dem Rennen gegen den Feuersturm verlor sie ihre ältere Schwester und die Babyzwillinge. Wie viele andere suchten sie diese vergeblich und verbrachten die letzten Stunden der Nacht in einem Krankenhauskeller unter Menschen, die im Sterben lagen. Am nächsten Tag gingen sie zurück zum Wohnhaus, aber dort waren alle tot. Es gab in den Städten so viele Tote, dass Seuchen die nächste große Gefahr darstellten, was dazu führte, dass tausende Leichen aufgehäuft und verbrannt wurden. War es das, was Churchill im Sinn gehabt hatte, als er einen „vernichtenden Angriff“ auf Deutschland forderte?

Der Historiker Max Hastings hat erklärt, dass diese Bombeneinsätze nicht als Kriegsverbrechen betrachtet werden können, weil sie letztlich darauf gerichtet waren, die militärische Niederlage Deutschlands zu erreichen, und somit die Handlungen nicht als moralisch gleichwertig mit den Verbrechen der Nazis betrachtet werden können. Aber sind nicht alle Handlungen des Massenmordes gleichwertig? Grayling ist dieser Ansicht: er bleibt dabei, dass die britische Luftwaffe den vorsätzlichen und erbarmungslosen Massenmord deutscher Zivilisten in einem verheerenden Ausmaß betrieben hat – wobei durch die Bombardierungen so viele Menschen getötet wurden wie insgesamt britische Männer im Ersten Weltkrieg. Darüberhinaus vertritt er die Ansicht, dass diese Männer Befehle ausführten und deshalb moralisch gleich schuldig sind wie diejenigen, die diese erlassen haben.

Das war kein isolierter Vorfall. Die Bomber kamen zurück, um die Prozedur zu wiederholen, sehr zur Verwirrung der verbleibenden Bevölkerung, die mit ihren Habseligkeiten auf dem Weg aus der Stadt war. In seinem Buch ‚Über die Naturgeschichte der Zerstörung’ berichtet W.G. Sebald über eine obdachlose Frau, deren Koffer auf der Straße aufsprang. Der einzige Inhalt, der herausfiel, waren die Gebeine ihres toten Kindes. Eine Buchbesprechung von Sebalds Buch im Guardian beschrieb die Frau als geistesgestört; mir erscheint es allerdings ganz gesund zu sein, die Gebeine deiner Kinder mit dir zu tragen, bis ein geeignetet Ort für das Begräbnis gefunden werden kann – ein Ort, an dem du sie später besuchen könntest.

Entmenschlichung – der Prozess, seinen vermeintlichen Feind schlechtzumachen – ist nicht bösen Menschen vorbehalten: Erniedrigung, Verfremdung, Nichtanerkennung, Ausschluss, die willkürliche Ermordung von Zivilisten und sogar Kampagnen des Genozids liegen bei der Mehrheit der Menschen durchaus im Bereich des Möglichen. Es gibt seit dem Zweiten Weltkrieg viele Beispiele für Dehumanisierung in extremem Ausmaß: Vietnam, Indonesien, Ruanda, Sudan, Irak, Palästina, Libyen, Somalia, Afghanistan und Syrien, wo Bevölkerungen ebenso als minderwertig hingestellt worden sind, und wo Zivilisten getötet worden sind als Resultat von sogenannten „Präzisionsbomben“ oder ertrunken sind bei ihren Versuchen, vor Krieg und Verfolgung zu flüchten.

Die Behandlung anderer Menschen als minderwertig war Forschungsgegenstand im Bereich der Sozialpsychologie seit mehr als einem halben Jahrhundert, aber während diese Arbeit hilft, die Neigungen unserer dunklen Seite zu erklären, liegt die Lösung im Fall von Entmenschlichung, und letztlich Vernichtung, im breiteren Zusammenhang von Geschichte, Politik, Philosophie und sozialer Aktivität – in Kämpfen für Emanzipation von Unterdrückung oder Entmenschlichung in allen ihren Erscheinungen.

Solange sie für viele Menschen den dominierenden Faktor darstellt, ist Entmenschlichung keine historische Notwendigkeit, sondern ein Zerrbild. Für den radikalen Erzieher und Sozialaktivisten Paolo Freire entspricht Vermenschlichung der natürlichen Ordnung. Freire war eifrig darauf bedacht darauf hinzuweisen, dass in einem Bemühen, ihre Menschlichkeit wiederherzustellen, unterdrückte Gruppen, die als minderwertig behandelt worden waren, dazu tendieren, ihre Unterdrücker zu bekämpfen. Angesichts der verfügbaren Rollenmodelle besteht die Gefahr, dass die Unterdrückung dann einfach umgekehrt praktiziert wird. Das wirkliche Ziel der Unterdrückten, so argumentiert er, ist nicht nur sich selbst zu befreien, sondern auch ihre Unterdrücker, und dadurch die Humanität beider wiederherzustellen. Das klingt ein bisschen wie deinen Feind lieben lernen, was immer schon ein guter Ausgangspunkt war.

 
     
  erschienen am 19. Oktober 2016 auf openDemocracy > Artikel  
  Paul Tritschler ist Anwalt und im Bereich der Kinder- und Familienhilfe tätig. Er lehrt Psychologie in Suffolk.  
 
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