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Die Rehabilitierung des Kolonialismus?

Umdeutungen kolonialer Geschichte und Gegenwart im Kontext der Kontroverse um die Umbenennung von Straßennamen

Tobias Schmitt

 

Dass Veränderungen nicht immer allen gefallen, mag zunächst einmal nicht besonders überraschend sein. Doch dass die geplante Umbenennung von Straßen, die nach einflussreichen Protagonisten der deutschen Kolonialzeit benannt sind, nicht nur auf lokaler Ebene, sondern auch auf überregionaler und nationaler Ebene immer wieder zu vehementen Widerständen und zahlreichen Abwehrreaktionen führt, lässt vermuten, dass es dabei um mehr geht als lediglich um die Angst vor Veränderungen. Doch um was wird dabei eigentlich gestritten und was wird dabei mit verhandelt?

Am 1. Juni 2017 veröffentlichte die konservative Tageszeitung Die Welt einen Kommentar ihres ehemaligen Redakteurs Alan Posener zur Umbenennung von Straßennamen im sogenannten ‚Afrikanischen Viertel‘ in Berlin unter der Überschrift „Deutscher Auslöschungsfuror“. Einen Tag später wurde die Überschrift in „Neuer Kolonialismus“ abgeändert (Posener 2017c). Darauf aufbauend veröffentlichte Posener bereits einen Monat später einen weiteren Artikel in der Welt – diesmal allerdings unter der Rubrik ‚Analyse‘ – mit der bezeichnenden Überschrift: „Es war nicht alles schlecht am Kolonialismus“ (Posener 2017a). Schon die verwendeten Überschriften lassen erkennen, in welche Richtung die diskursiven Interventionen Alan Poseners – einst Mitstreiter in der ‚Achse des Guten‘ – abzielen: Es geht um die Frage nach dem Umgang mit der deutschen Kolonialgeschichte und kolonialen Gegenwart und um den Kampf um Deutungshoheit.

Eine kurze Analyse dieser beiden Artikel bietet somit die Möglichkeit, sich mit den gängigen Argumentationsmustern und Abwehrmechanismen in der Debatte um Straßenumbenennungen auseinander zu setzen und insbesondere die darin eingewobenen Versuche einer (Neu)Bewertung der (deutschen) Kolonialzeit aufzuzeigen.

Würdigung von Kolonialverbrechern

In der Umbenennung von Straßen, die auch heute noch nach Kolonialverbrechern benannt sind, sieht Alan Posener einen Akt der „retroaktiven Säuberung“ (Posener 2017c). Genau wie Stalin, der „seine in Ungnade gefallenen Genossen aus Fotos wegretuschieren“ (ebd.) ließ, werde dadurch das Stadtbild ständig retuschiert, „damit wir nicht mit der Tatsache konfrontiert werden, dass wir früher anders getickt haben“ (ebd.). Eine Straßenumbenennung wird dadurch von einem politischen Akt eines verantwortungsvollen Umgangs mit Geschichte und Erinnerungskultur in einen Akt der Tilgung von Erinnerung und der Geschichtsvergessenheit umgedeutet.

Zunächst ist es ja durchaus richtig, dass Straßennamen als Erinnerungsorte fungieren, über die bestimmte Ereignisse und Persönlichkeiten geehrt und in Erinnerung gehalten werden (vgl. Kwesi Aikins und Hoppe 2015). Über die Entscheidung, wessen Namen auf Straßenschilder und damit in die Adresszeilen vieler Menschen geschrieben werden, entscheidet sich letztlich auch, wessen Namen sich in das kollektive Gedächtnis einer Stadt und einer Gesellschaft einschreiben. Damit können Straßenschilder auch als Zeiger für den gesellschaftlichen Umgang mit Geschichte und als Positionierung hinsichtlich bestimmter historischer Ereignisse gelesen werden. So verweisen die vielen Bonhoeffer- und Stauffenbergstraßen in Deutschland auf eine bestimmte Art der Erinnerungskultur an die Zeit des deutschen Nationalsozialismus, über die bestimmte Formen des Widerstandes benannt, andere jedoch ausklammert werden. Eine Goebbels- oder gar Hitlerstraße sucht man in Deutschland vergebens – und wären auch in den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen zum Glück undenkbar. Dies löscht jedoch nicht die Erinnerung an die Gräueltaten des Nationalsozialismus aus, sondern verweigert lediglich, einen Ort zu schaffen, an dem eine positive Bezugnahme möglich wäre. Gleichzeitig wären solche Straßennamen für Anwohner*innen, Passant*innen, Tourist*innen und vor allem für Überlebende des Holocaust unerträglich. Gerade die Vorstellung von Straßen, die nach bekannten Persönlichkeiten des Nationalsozialismus (und leider nur den „bekannten“) benannt sind, macht die Absurdität des Festhaltens an Straßennamen, die an Kolonialverbrecher erinnern, schmerzhaft deutlich.

Im konkreten Fall geht es um die Umbenennung des Nachtigalplatzes, der Lüderitzstraße und der Petersallee. Sowohl Gustav Nachtigal als auch Adolf Lüderitz und Carl Peters eigneten sich in West und Ost-Afrika große Gebiete mittels Betrug, Erpressung und Gewalt an und legten damit die Grundlage für die deutsche Kolonialexpansion. Insbesondere Carl Peters war für seine ausgeprägten rassistischen Positionen und seine brutale Vorgehensweise bekannt, so dass er in Tansania den Spitznamen mkono wa damu (Hand mit Blut) (Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland 2017) und in Deutschland den Namen ‚Hängepeters‘ erhielt. Nachdem er aufgrund seines brutalen Vorgehens 1897 unehrenhaft aus dem Staatsdienst entlassen wurde, entdeckten ihn die Nationalsozialisten für ihre Zwecke neu. In der Hoffnung, dadurch das Kolonialbewußtsein in der Bevölkerung wieder zu beleben, inszenierten sie Peters als „Herrenmenschen“ und „Großen Deutschen“ (Kwesi Aikins und Hoppe 2015: 530) und benannten schließlich 1939 die Petersallee nach ihm.

1986 wurde die Petersallee von der SPD-geführten Bezirksversammlung umgewidmet. Sie sollte nun nicht länger nach Carl Peters, sondern vielmehr nach dem Widerstandskämpfer im Nationalsozialismus Hans Peters benannt sein, ohne dass dabei ein umständlicher Umbenennungsprozess von Nöten wäre. Auch für den Nachtigalplatz ließe sich ein bekannter Vogel finden und die Lüderitzstraße könne, so der Journalist Gunnar Schupelius in der Berliner Zeitung, nach der Stadt und nicht nach der Person Lüderitz benannt werden. Überhaupt plädiert Schupelius für einen etwas entspannteren Umgang mit der deutschen (Kolonial)Vergangenheit (Schupelius 2017).

Eine solche Umdeutung anstelle einer Umbenennung kann jedoch nur als Weg des geringsten Widerstandes verstanden werden, durch den eine tiefer gehende Aufarbeitung mit der deutschen Kolonialgeschichte umgangen oder gar verhindert wird. Im konkreten Fall der Berliner Straßennamen sollten die Straßen ganz bewusst nach Widerstandskämpferinnen gegen die Kolonialbesetzung umbenannt werden. Allerdings, so die berechtigte Kritik von Angehörigen der Herero, sollten diese auch einen direkten Bezug zur deutschen Kolonialgeschichte aufweisen und nicht, wie zwei der drei von der Jury vorgeschlagenen Personen, vor allem Widerstand gegen die portugiesische oder britische Kolonialbesatzung geleistet haben (Berliner Zeitung 2017). Dies würde die Kolonialgeschichte wieder zur Geschichte der Anderen machen, was an der ursprünglichen Intention der Umbenennung vorbeigeht und eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte eher vermeidet.

Umdeutungen als Provokation und Intervention

Doch die eigentliche Stoßrichtung von Poseners Argumentationsweise zielt nicht auf die Verhinderung der Umbenennung. Was ihn viel mehr umtreibt, ist die Frage nach der Deutungshoheit: Wer darf über den Umgang mit der gewaltvollen deutschen Geschichte entscheiden – und am Ende gar darüber urteilen?

Posener spricht von einer „geheimen Jury“, die der Tagesspiegel nun jedoch „enthüllt“ habe, die vor allem aus Mitgliedern „afrikanischer Herkunft“ bestehe – was er mit deren Vor- und Nachnamen zu belegen glaubt. Zudem seien die Beteiligten eng vernetzt seien und würden sich immer wieder bei Seminaren, Tagungen und Workshops der „akademischen Szene“ treffen. Hier scheint Posener einer ganz großen Verschwörung auf der Spur – bei genauerem Hinsehen beschreibt er damit aber lediglich den ganz normalen und relativ unspektakulären Alltag von Wissenschaftler*innen.

Jedoch kommt er dann zu seinem eigentlichen Punkt: dem „typisch deutschen Auslöschungsfuror“. Seine geschichtsrevisionistische Argumentationsweise baut u.a. darauf auf,  den Begriff der “Betroffenen“ umzudeuten. Als “Betroffene“ will Posener nicht diejenigen verstanden wissen, die unter dem deutschen Kolonialismus gelitten haben – die unzähligen Toten, Versklavten, Vergewaltigten, Unterdrückten, Ausgebeuteten und deren Nachkommen. “Betroffene“ sind für ihn auch nicht Schwarze Menschen, die durch die Benennung von Straßen mit Namen von Kolonialverbrechern wie Peters oder Lüderitz in besonderer Weise an die Kolonialgeschichte erinnert werden und über diese Art der symbolischen Gewalt immer wieder re-traumatisiert werden können. Nein, ‚die Betroffenen‘ sind für Posener ‚die Arbeiter‘, ‚kleinen Angestellten‘ und ‚Beamte‘ (natürlich nur in der männlichen Variante), die er als ‚Eingeborene‘ bezeichnet und die angeblich nicht an der Entscheidungsfindung beteiligt worden seien. Für ihn hat das Treffen von Entscheidungen im „Namen einer aufgeklärten Moderne“ über die Köpfe der Anwohner*innen hinweg System – und dieses System benennt er als ‚Kolonialismus‘. Jahrhunderte von Gewalt, Genozid, strukturellem Rassismus etc. werden somit kurzerhand mit einer angeblichen Nichtbeteiligung der Anwohner*innen bei der Umbenennung von Straßennamen gleichgesetzt. Was hier vermeintlich grotesk wirken soll – die Angestellten und Beamten sind schließlich keine ‚primitiven Eingeborenen‘, über deren Köpfe man einfach so entscheiden kann – reproduziert nicht nur eine kolonial-rassistische Sprech- und Denkweise, sondern ignoriert auch die zahlreichen Workshops, Diskussionsveranstaltungen, Stadtführungen, Performances und Lesungen, die rund um die Debatte der Straßennamenumbenennungen im afrikanischen Viertel in Berlin bereits stattgefunden haben (Kwesi Aikins und Hoppe 2015: 536). Insbesondere die vom Bezirksbürgermeister von Berlin-Mitte, Dr. Christian Hanke, bereits 2010 eröffnete Ausstellung freedom roads ist explizit mit dem Ziel angetreten, mit den Anwohner*innen in Dialog zu treten und Namensvorschläge für die drei fraglichen Straßennamen zu erarbeiten (freedom-roads 2010).

Mit der Umdefinierung der Betroffenen bereitet Posener schließlich sein Hauptargument vor, das er bereits in der Überschrift angekündigt hatte: die Ausrufung eines „neuen Kolonialismus“ und die Umdeutung und Neubewertung des kolonialen Systems.

„Es war nicht alles schlecht am Kolonialismus“

Über die Neubesetzung und Relativierung des Kolonialismusbegriffes eröffnen sich schließlich diskursive Möglichkeiten, den Kolonialismus an sich neu zu bewerten. Scheinbar abgesichert durch die Behauptung, einen „differenzierten Blick auf die Geschichte der Imperien“ werfen zu wollen (Posener 2017a), startet Posener in seiner zweiten Intervention den Versuch, die guten von den bösen Kolonisatoren zu unterscheiden und gleichzeitig „die Leistungen des Kolonialismus“ (ebd.) hervorzuheben. Dabei scheint ihm ganz besonders Gustav Nachtigal am Herzen zu liegen, der angeblich „trotz seiner Skepsis gegenüber dem Kolonialismus“ (ebd.) deutscher Reichskommissar in Südwestafrika wurde, und den er zu einem „bewundernswerten Mensch[en]“ (ebd.) verklären will. Nachtigal, der nachgewiesenermaßen mittels Erpressung, Betrug, Entführung und militärischer Gewalt Territorien für das Deutsche Reich aneignete (Kopp und Krohn o.J.) und den die kamerunische Germanistin Dr. Marie Biloa Onana als „in besonderem Maße verantwortlich für das Unrecht, das den kolonialisierten Völkern zugefügt wurde“ bezeichnet (ebd.), wird bei Posener zu einem „Kämpfer gegen Sklaverei und Rassismus“ umgedeutet. Dass auch die Nationalsozialisten ihn als Begründer der Kolonien Togo und Kamerun glorifizierten (ebd.), scheint Posener dabei nicht zu stören. Besonders perfide wird dessen Täter-Opfer-Umkehr aber dann, wenn er den Kolonialverbrecher Nachtigal als „Opfer der Ideologie des Antiimperialismus“ (Posener 2017a) darstellt.

In die Reihe der Opfer der „Ideologie des Antiimperialismus“ fügt Posener dann nahtlos die südafrikanische Politikerin und ehemalige Bürgermeisterin von Kapstadt, Helen Zille, ein. Sie soll für ihn zur Kronzeugin für das Vorhaben einer Neubewertung des Kolonialismus werden. Die Kritik an ihren Äußerungen zum Kolonialismus dient ihm dabei als Beweis für die Wirkmächtigkeit der „demagogischen Weltsicht“ des Antiimperialismus und dessen anscheinend akademischen Pendant, den „postkolonialen Studien“ (ebd.).

Helen Zille war in die Kritik geraten, da sie den ‚Reichtum‘, den der Kolonialismus hinterlassen hatte – vor allem hinsichtlich medizinischer Technologien und Infrastruktur – hervorhob und die kolonialisierten Menschen dazu aufforderte, hierfür dankbar zu sein (Wilhelm-Solomon 2017). „Wer behauptet, das koloniale Erbe sei nur negativ, sollte an unsere unabhängige Justiz, Transportinfrastruktur, Wasserversorgung usw. denken“ (Zille in: Posener 2017a). Natürlich fallen einem dabei sofort die Stammtischparolen ein, die die Verbrechen des Nationalsozialismus reflexartig mit dem Bau der deutschen Autobahnen zu relativieren versuchen. Doch wer, wie etwa der Hamburger Geschichtsprofessor Jürgen Zimmerer in einem Post auf Twitter, eine solche Parallele bezüglich der Argumentationsmuster zu ziehen wagt, wird sofort mit dem Vorwurf der Relativierung des Holocausts abgestraft (s. Posener 2017b).

Die Aktualisierung der ‚Bürde des Weißen Mannes‘

Doch es bedarf keiner Vergleiche mit dem Nationalsozialismus, um die Absurdität der Rehabilitationsstrategie aufzuzeigen. Insbesondere die von Zille gelobte Transportinfrastruktur diente in den kolonialisierten Ländern in erster Linie dem Transport von Rohstoffen, versklavten Menschen, Arbeitskräften und militärischen Truppen. Somit waren sie vor allem ein Instrument der Aneignung und Ausbeutung des Landes und der Menschen und dienten der (militärischen) Kontrolle und Regierbarkeit des Territoriums (Tharoor 2017). Auch die Schulen, Krankenhäuser und Kirchen wurden zunächst für die Kolonisatoren und ihre Familien erbaut. Dort, wo sie auch für die kolonialisierte Bevölkerung zugänglich waren, wurden über sie europäische Glaubens- und Wissenssysteme etabliert, während bestehende Heilpraktiken, Wissensformationen, spirituelle Lehren, Lebensstile, Identitäten usw. verdrängt und zerstört wurden. Auch wurden viele der Medikamente und Behandlungsmethoden (etwa gegen Malaria oder Schlafkrankheit) nicht einfach von den Kolonisatoren in die Kolonien mitgebracht und verteilt. Vielmehr wurden sie erst in den Kolonien selbst entwickelt – manchmal mit gewaltvollen Menschenversuchen, die allzu oft auch zu schweren Nebenwirkungen bis hin zum Tod der zwangsweise Beteiligten führten (Wilhelm-Solomon 2017).

Genau wie schon zur Kolonialzeit die kolonialen Eroberungen mitsamt ihren Gräueltaten und Verbrechen mithilfe der angeblichen ‚Zivilisationsmission‘ legitimiert werden sollten und  eine Art Interventionspflicht als ‚Bürde des weißen Mannes‘ ausgerufen wurde, versucht Posener nun durch eine Art Gegenrechnung der zivilisatorischen Leistungen die historische Bewertung des Kolonialismus neu zu bestimmen. Die Ausrichtung seines Legitimationsversuches richtet sich jedoch letztendlich auf die Entwicklungen der Gegenwart und „Europas Rückkehr nach Afrika“. Interessanterweise stellt er dabei die kolonialen Projekte römisches Reich, britisches Empire und die EU in eine Reihe, „deren zivilisatorische Leistungen nur Demagogen leugnen können“ (Posener 2017a). Doch anstelle einer Kritik an den neokolonialen Bestrebungen der EU-Außenpolitik will er über die Neubewertung der kolonialen Vergangenheit Akzeptanz für europäische Interventionen in afrikanischen Ländern schaffen. Denn auch die EU sei gerade dabei, ihre „mission civilisatrice wiederzuentdecken“, um in Afrika die „Ursachen von Flucht und Migration zu bekämpfen“, was Grund genug dafür sei, „sich der Leistung eines Gustav Nachtigal zu erinnern“ (ebd.). Dem kann man eigentlich nur zustimmen, jedoch nicht im Sinne einer erneuten Glorifizierung von Kolonialverbrechern, wie es bereits die Nationalsozialisten erfolgreich betrieben hatten. Nötig ist vielmehr eben die Thematisierung und ein kritischer Umgang mit der deutschen Kolonialgeschichte, die Übernahme von Verantwortung – beispielsweise hinsichtlich des Genozids an den Herero und Nama – und ein bewusster Umgang mit Spuren der kolonialen Vergangenheit und Gegenwart, wie beispielsweise bei der Umbenennung von Straßennamen.

Internationale Tendenzen der Umdeutung

Der Versuch, den Diskurs über die koloniale Vergangenheit hin zu einer angeblich ‚differenzierten Betrachtung‘ und einer positiven Neubewertung zu verschieben, lässt sich jedoch auch in anderen Ländern beobachten. So gibt es etwa in Großbritannien in den letzten Jahren verstärkt Versuche, die Errungenschaften des britischen Empire für die Kolonien wieder stärker in den Fokus zu rücken. 2012 veröffentlichte das Wirtschaftsmagazin The Economist eine begeisterte Rezension von John Darwins „Unfinished Empire: The Global Expansion of Britain“. Darin wird das Buch als dringend notwendiges Gegengift gegen den linken Konsens der letzten 50 Jahre gefeiert, durch den das britische Empire lediglich als Katalog von Gräueltaten, Ausbeutung und Rassismus erscheine (The Economist 2012). Dass ein solcher Diskurs verfängt, scheinen auch Umfragen zu bestätigen: So gaben in einer Erhebung von 2014 59% der Brit*innen an, dass das britische Empire etwas sei, worauf man stolz sein könne, während lediglich 19% der Befragten meinten, dass es eher ein Grund zum Schämen sei (YouGov UK 2014).

Im letzten Jahr sorgte der Artikel ‚The case for colonialism‘ (Plädoyer für den Kolonialismus) von Bruce Gilley, der im September 2017 in der Zeitschrift Third World Quarterly erschienen ist, nicht nur in der Wissenschaftlichen community für eine Welle der Empörung. In dem Artikel versucht Gilley mit einer abenteuerlichen Kosten-Nutzen-Analyse darzulegen, dass der Kolonialismus ‚objektiv‘ gesehen den  kolonialisierten Ländern mehr genutzt als geschadet habe. Dabei bemüht er die bereits bekannten Kriterien – wie den Ausbau des Bildungs- und Gesundheitssystem, der Infrastruktur und der Verwaltung – schreckt aber auch nicht davor zurück, die Etablierung eines angeblich fairen Steuersystems, eine gesetzliche Festschreibung von Frauenrechten, die Befreiung von historisch marginalisierten Gemeinschaften und sogar die Abschaffung der Sklaverei als Errungenschaften des Kolonialismus zu imaginieren.

Im Gegensatz zu vielen anderen Artikeln aus der Reihe der Rehabilitierung des Kolonialismus geht Bruce Gilley jedoch noch einen Schritt weiter: “Jede Behauptung – zum Beispiel über koloniale Gewalt – erfordert nicht nur Annahmen über das Ausmaß an Gewalt, das ohne koloniale Herrschaft stattgefunden hätte, sondern auch eine einordnung dieser Gewalt im Verhältnis zur Größe der Bevölkerung, den Sicherheitsbedrohungen und den Sicherheitskapazitäten im betreffenden Territorium” (Gilley 2017, S.3, Übersetzung: IMI). Eine solche Relativierung und Rechtfertigung kolonialer Gewalt wird nur dann noch übertroffen, wenn Gilley den Kolonialismus über den Ansatz der ‚subjektiven Legitimierung‘ zu verteidigen versucht. Dabei werden der Besuch von Schulen und Krankenhäusern, aber auch die Inanspruchnahme der Dienste der Kolonialpolizei und das Dienen in kolonialen Armeen als freiwillige Praktiken beschrieben, durch welche die Kolonisierten die Legitimität des Kolonialismus bezeugt hätten (ebd. S. 4), was sich wie ein Schlag in das Gesicht aller Opfer des Kolonialismus liest.

Auch in Gilley‘s Artikel stellt die Umdeutung von Begriffen und Zusammenhängen das wesentliche rhetorische Mittel dar, um das Plädoyer für den Kolonialismus voranzutreiben: So sei nicht der Kolonialismus, sondern der Anti-Kolonialismus – den er als Ideologie beschreibt – für ungezähltes Leid und die Verhinderung einer nachhaltigen Entwicklung verantwortlich: „Es hat sich gezeigt, dass die schwerwiegendste Bedrohung der Menschenrechte und des Weltfriedens nicht der Kolonialismus war – wie es die Vereinten Nationen 1960 erklärten – sondern der Antikolonialismus” (ebd. S. 7, Übersetzung: IMI).

Aktuelle Brisanz erhält der Artikel insbesondere dadurch, dass auch in ihm der Versuch unternommen wird, neokoloniale Interventionen neu zu rechtfertigen. Das Problem eines neuen Imperialismus bestehe laut Gilley nicht darin, dass er ‚böse‘ sei, sondern lediglich darin, dass er zu teuer sei und die westlichen Staaten mithilfe von Ausgleichszahlungen für ihre Kolonialdienste motiviert werden müssten (ebd. S. 10). In Zeiten, in denen die Vorstellung einer weißen Überlegenheit nicht nur in den USA wieder verstärkt im öffentlichen Diskurs verankert wird und in denen militärische Interventionen und sogenannte humanitäre Zivilisierungsmissionen wieder zu unhinterfragte Bestandteilen der Außenpolitik werden,  klingt Gilley‘s Überlegung „vielleicht sollten die Belgier wieder [in den Kongo] zurückkehren“ (ebd. S. 11, Übersetzung: IMI) wie eine direkte Drohung.

Auch wenn Artikel wie die von Alan Posener und Bruce Gilley jede Menge Kritik hervorrufen, so dienen sie letztendlich dazu, diskursive Grenzen zu verschieben und neu auszuloten und die weiße Definitionshoheit zu erhalten. Diese Mechanismen zu benennen und dagegen vorzugehen erscheint aber wichtig, um die „koloniale Amnesie“ (Kwesi Aikins und Hoppe 2015: 524) aufzubrechen und eine kritische Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit voranzutreiben. Dies scheint gerade angesichts der „Rückkehr“ Europas „nach Afrika“ nötiger denn je. Dass zugleich die Widerstände gegen eine kritische Aufarbeitung wachsen, weist darauf hin, wie Geopolitik auch heute noch am Straßenschild vor der eigenen Haustür Wirkung entfaltet und Auseinandersetzungen entfacht.

Literaturverzeichnis

Berliner Zeitung (2017): Weddinger Straßenstreit. Herero beschweren sich beim Berliner Senat. In: Berliner Zeitung, 15.06.2017.

freedom-roads (2010): freedom roads! Ausstellungseröffnung 27.8.2010 in Berlin.

Gilley, Bruce (2017): The case for colonialism. In: Third World Quarterly, S. 1-17.

Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (2017): Ehrung von drei Persönlichkeiten des afrikanischen Widerstands im „Lern-und Erinnerungsort Afrikanisches Viertel“ in Berlin-Mitte. ISD.

Kopp, Christian & Marius Krohn (o.J.): Blues in Schwarzweiss. Die Black Community im Widerstand gegen kolonialrassistische Straßennamen in Berlin-Mitte. berlin-postkolonial.

Kwesi Aikins, Joshua & Rosa Hoppe (2015): „Straßennamen als Wegweiser für eine postkoloniale Erinnerung in Deutschland“. In: Susan Arndt und Nadja Ofuatey-Alazard (Hg.): Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache; ein kritisches Nachschlagewerk. 2. Aufl. Münster: Unrast-Verl., S. 521–538.

Posener, Alan (2017a): Es war nicht alles schlecht am Kolonialismus. Die Welt.

Posener, Alan (2017b): Jürgen Zimmerer relativiert den Holocaust. Starke Meinungen.de.

Posener, Alan (2017c): Neuer Kolonialismus. Die Welt.

Schupelius, Gunnar (2017): Anwohner im Afrikanischen Viertel wehren sich gegen Umbenennung. In: Berliner Zeitung. 19.6.2017.

Tharoor, Shashi (2017): ‚But what about the railways …?‘ The myth of Britain’s gifts to India. In: The Guardian, 08.03.2017.

The Economist (2012): Pondering the past. Britain’s empire was far more complex than its critics appreciate. In: The Economist, 15.09.2012.

Wilhelm-Solomon, Matthew (2017): Zille’s Tweets and History’s Miasma. In: The Con, 24.03.2017.

YouGov UK (2014): The British Empire is ‚something to be proud of‘. Unter Mitarbeit von Will Dahlgreen.

 
     
  erschienen am 12. Februar 2018 auf > Informationsstelle Militarisierung > Artikel  
  Herzlichen Dank den Kollegen von der Informatisonsstelle Militarisierung für die Überlassung dieses Artikels!  
 
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Das ist die Politik der Europäischen Union, die von irgendwelchen Interessengruppen gelenkt wird. Warum unsere politischen Vertreter nicht gegen diese kranke und abwegige, für keinen vernünftigen Menschen nachvollziehbare Politik auftreten, fragen Sie diese am besten selbst!

 
> Appell der syrischen Kirchenführer (vor über einem Jahr): Die Sanktionen der Europäischen Union gegen Syrien und die Syrer sind unverzüglich aufzuheben! (LINK) <
     
 
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