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  Dieser Artikel des Sprachwissenschaftlers an der Universität Tel Aviv erschien vor zehn Jahren auf dieser Website. Der Artikel ist nach wie vor höchst aktuell und wird immer aktueller, wie sich abzeichnet.  
     
  Aus zwei Staaten mach einen

Ran HaCohen 

 

Vergangenen Woche verhängte ein Richter in Tel Aviv eine Geldstrafe in der Höhe von $ 25.000 über drei Hausbewohner, die ihren Balkon illegal um 23 m² vergrößert hatten. Das ist natürlich keine besondere Neuigkeit. Verstöße gegen die Bauordnung werden überall bestraft, auch wenn es wie in diesem Fall keine unmittelbar Geschädigten gibt. Israel ist ein Rechtsstaat und man darf sich nicht einfach ein Stück Grund aneignen und dieses behalten. 

Außer man befindet sich in den okkupierten Territorien, natürlich. Dort ist die Inbesitznahme von Land und die Errichtung zeitweiliger oder ständiger Wohnungen – und nicht nur von Wohnungen, sondern auch von Häusern, Wohnvierteln, ganzen Siedlungen – ohne jede Genehmigung nicht nur kein Vergehen, sondern eine zionistische und jüdisch-religiöse Pflicht. Macht man es ohne unmittelbar Geschädigte, ist das kein Problem. Wenn dadurch einige Palästinenser aus ihren Wohnungen oder von ihren Feldern vertrieben werden, ist das erst recht kein Problem. Wie die Hausbewohner in Tel Aviv werden auch die Okkupanten in der West Bank bald Besuch vom Staat bekommen; während aber die Besucher in Tel Aviv diese vor Gericht bringen werden, werden sie diejenigen in der West Bank an Wasserleitung und Stromnetz anschließen und ein paar Soldaten da lassen, um sicher zu stellen, dass die Besitzer des gestohlenen Landes ihre Sicherheit nicht gefährden, oder auch nur ihr Sicherheitsgefühl beeinträchtigen. (Auch diese Soldaten benötigen Unterkünfte, usw.) Und während in Tel Aviv die Hausbewohner, wenn sie zum Beispiel öffentliche Bedienstete sind, ihren Job wegen dieses Vergehens verlieren könnten, leben eine Reihe von israelischen Beamten in illegalen Siedlungen in der West Bank, und das Militär hat für derlei Fälle „keine Richtlinien.“ Akiva Eldar, der diese Angelegenheit in Ha´aretz aufdeckte, wundert sich, „wie ein Offizier, der das Gesetz bricht und Gerichtsurteile ignoriert als Modell für seine Soldaten dienen kann.“ Ich selbst sehe darin kein Problem: die Soldaten befinden sich in den Territorien aus genau dem gleichen Grund wie ihre gesetzesbrechenden Offiziere – um die Palästinenser zu enteignen. Ich denke, dass solche Offiziere eine Gehaltserhöhung bekommen sollen. In der Tat verdienen sie mehr, da die Siedler weniger Steuern (für bessere Leistungen) zahlen als normale Israelis.

 

Die zwei jüdischen Staaten

Auch das ist keine besondere Neuigkeit. Kritische Israelis – die letzten Mohikaner – wissen, dass es im Land Israel zwei jüdische Staaten gibt: den Staat Israel und die okkupierten Territorien. Der erstere ist ziemlich demokratisch, der letztere ist eine Diktatur. Der erstere wird von einer Regierung und einer Polizei beherrscht, die Gesetz und Ordnung aufrecht halten, der letztere ist ein Wilder Osten, beherrscht vom Militär und terrorisiert von Siedlern. Ein Verbrechen auf dieser Seite der Grünen Linie ist eine patriotische Tat auf der anderen. Damit habe wir länger als vier Jahrzehnte gelebt. Die meisten von uns haben niemals etwas anderes kennen gelernt. Haben nicht die Briten das Gleiche in Indien und in ihren anderen Kolonien getan? Die Franzosen in Algerien? Die Holländer in Indonesien? Nur Menschen mit einem Gewissen können nicht damit leben; die meisten Menschen schon. Du überschreitest eine Linie und wirst zu einer anderen Person.

 

Zu einem verschmolzen

Aber die rechtsgerichteten israelischen Regierungen – und alle israelischen Regierungen sind rechtsgerichtet oder schlimmer – haben diese Art, die Dinge zu sehen, wie sie durch die Grüne Grenze symbolisiert werden, nie gemocht. Die Grüne Linie erweckt den falschen Eindruck: jemand könnte irrtümlicherweise denken, dass das Land auf der anderen Seite nicht uns gehört. Daher hat Israel, der ältere jüdische Staat, sein bestes getan, um diese Grenze auszulöschen. Sie fahren zum Beispiel auf der Autobahn von Tel Aviv etwa nach Petach Tikva – einer Stadt in Israel – und auf der Strecke sehen Sie ein Verkehrsschild, das nach „Ariel“ weist. Das Schild hat die gleiche Form, Größe und Farbe wie jedes andere. Niemand kümmert sich darum, Ihnen mitzuteilen, dass Ariel eine illegale israelische Siedlung mitten in der West Bank ist, und dass Sie dadurch, dass Sie hinfahren, sich auf die israelische Okkupation einlassen und sich somit an der israelischen Okkupation mitschuldig machen. Sie können nicht sagen, wann und wo Sie die Grüne Linie überquert haben und von dem einem in den zweiten jüdischen Staat übergewechselt sind, von dem einen mit einer jüdischen Mehrheit und demokratischen Einrichtungen in den anderen, in dem die jüdische Minderheit ihre militärische Diktatur über eine palästinensische Mehrheit ausübt. 

Ein anderes Beispiel: letzte Woche ließ ich mich mit dem Taxi von Tel Aviv nach Jerusalem fahren. Es war früh am Morgen und ich machte ein kleines Schläfchen. Plötzlich hielt das Taxi an. Ich gebe zu, dass ich mich bemühe, nach Möglichkeit (West-) Jerusalem zu vermeiden – eine angespannte, arme und hässliche Stadt, heimgesucht von verschiedenen Bevölkerungsgruppen, deren einziger gemeinsamer Nenner gegenseitiges Misstrauen ist – aber ich kenne den Weg dorthin, und das Taxi hatte keinen Grund anzuhalten. Ich öffnete meine Augen und war mit einem ungewohnten Anblick konfrontiert. Der Taxifahrer nahm die berühmt-berüchtigte Apartheid-Autobahn durch die West Bank. Es fiel ihm gar nicht ein, mich zu fragen, ob er die Grüne Linie überschreiten dürfe. Das ist normal. 

In der Tat unterscheidet sich der legale Status der okkupierten Territorien noch immer; das israelische Recht wird dorthin „exportiert“ mittels juristischer Haarspalterei, mit der sich höchstens ein paar Juristen und Anwälte beschäftigen. In Wirklichkeit trägt sozusagen jeder israelische Soldat und Bürger das israelische Recht mit sich, wenn er die Grüne Linie überschreitet, der Rest wird erledigt mit militärischen Dekreten. Geht man von der praktischen Situation aus, sind die beiden jüdischen Staaten tatsächlich einer, so weit es Juden betrifft.  

 

Aber was für einer?

Hinter der Beseitigung der Grünen Grenze stand die Idee, den zweiten jüdischen Staat zu annektieren und – seine jüdischen Bürger sowie Land und Ressourcen, aber nicht seine palästinensischen Bewohner – in den ersten jüdischen Staat zu integrieren. Was zur Zeit vor sich geht ist, dass die zwei jüdischen Staaten zu einem werden, allerdings nicht in der vorgesehenen Weise. Die okkupierten Territorien werden nicht von Israel geschluckt – sie schlucken dieses. Symbolisch dafür ist die Tatsache, dass der brutale israelische Außenminister Avigdor Lieberman ein Siedler ist. In der Tat macht sich die Logik der okkupierten Territorien in ganz Israel breit. Die künstliche Solidarität ausschließlich unter Juden (so lange sie politische Konformisten sind), die Xenophobie und offener Rassismus gegenüber Nichtjuden, die Intoleranz gegenüber jeder Art von Kritik und abweichenden Meinungen, die geschlossene Kultur einer belagerten Festung, sie alle verwandeln Israel in eine riesige West Bank-Siedlung, umgeben von einem HiTech-Zaun und eingeschlossen von einem Meer des vermeintlichen Antisemitismus. Es ist nicht nur die unverhältnismäßige Mehrheit von Siedlern in Militär und Politik; es steigen auch die Pegel von Gesetzlosigkeit und Entmenschlichung von anderen (seien es Palästinenser, Fremdarbeiter oder afrikanische Flüchtlinge), von religiösem Extremismus in einer verzerrten Form des Judentums, und über all das hinaus vielleicht der Ideologie und der Geschichtsauffassung der Siedler in vielen Dingen, von der Bedeutung des Zionismus bis hin zur Auslegung neuerer Vorgänge wie des Rückzugs aus Gaza oder des Libanonkriegs, die weit über den eingeschränkten Kreis der tatsächlichen Siedler hinaus Fuß fasst.  

Eine erschreckende Verkörperung all dessen sind Siedler, die jetzt Israel selbst kolonisieren. In Israels gemischt bewohnten Städten – von Tel Aviv (von dem Jaffa ein Teil ist) bis Acre – bilden Siedler aus der West Bank Nester des Hasses in der Form jüdisch-orthodoxer Gruppen, die zusammen leben und in der Verkleidung von „Torahschulen“ und „sozialer Hilfe“ zündeln und die Botschaft verbreiten: Juden herein, Araber hinaus. Palästinenser werden schikaniert und manchmal tätlich angegriffen. Die Unruhen in Acre 2008 waren Resultate derartiger Aktivitäten von Siedlern. Spannungen wachsen jetzt schnell in verschiedenen gemischt bewohnten Städten, einschließlich Jaffa, wo Siedler vor kurzem in ein palästinensischen Haus eindrangen, dessen Bewohnerin angriffen und ihr sagten, sie würden „alle Araber aus Jaffa vertreiben.“

Während die gesamte arabische Welt bereit ist, Kompromisse einzugehen und Israel mehr als je zuvor zu akzeptieren, während weise Häupter in und außerhalb Israels sich noch immer mit der ewigen „Ein Staat oder zwei Staaten“-Debatte beschäftigen, wird eine Ein-Staaten-Lösung implementiert, durch die Israel von einem Staat mit einer Kolonie zu einer Kolonie mit einem Staat wird.

 
     
  erschienen am 10. Mai 2010 auf > Antiwar.com > Artikel  
  Archiv > Artikel von Ran HaCohen auf antikrieg.com  
  Ran HaCohen lehrt in der Abteilung Vergleichende Literatur an der Universität in Tel Aviv und ist Literaturkritiker für die israelische Tageszeitung Yedioth Ahronoth, Israels verbreitetste Tageszeitung. Er wurde 1964 in Holland geboren und wuchs in Israel auf. Sein „Letter from Israel“ (Brief aus Israel) erscheint gelegentlich auf www.antiwar.com.  
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Das ist die Politik der Europäischen Union, die offenbar von bestimmten Interessengruppen gelenkt wird und sich aufführt wie die Vereinigte Kolonialverwaltung der europäischen Ex-Kolonialmächte. Warum unsere politischen Vertreter nicht gegen diese kranke und abwegige, für keinen vernünftigen Menschen nachvollziehbare Politik auftreten, fragen Sie diese am besten selbst!

 
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