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"Entweder verhindert die Revolution den Krieg oder der Krieg wird die Revolution bringen" - Mao Tsetung

     
  Völkermord, Vernichtungskrieg ... wie schon die Alten sungen ...  
     
 

Geteilte Altlasten

Berlin stationiert kommentarlos deutsche Soldaten der künftigen Litauen-Brigade unweit von Tatort der Judenvernichtung im Zweiten Weltkrieg – ohne jede Bemühung, der Opfer der Shoah und des deutschen Vernichtungskrieges zu gedenken.

German Foreign Policy

 

BERLIN/NEMENCINE (Eigener Bericht) – Berlin stationiert einen Teil der künftigen Litauen-Brigade in Nemencine nur ungefähr zwei Kilometer entfernt von der Stelle, an der im Herbst 1941 Deutsche und Litauer einen Großteil der jüdischen Bevölkerung des Ortes ermordeten. Das Massaker von Nemencine war Teil des systematischen Massenmordes, mit dem Deutsche und ihre litauischen Helfer die Juden der litauischen Provinz vernichteten. Vor dem Einmarsch der Deutschen war Litauen ein überregionales Zentrum jüdischer Kultur gewesen. Wenige Monate danach war es „judenfrei“. Weniger als fünf Prozent der ortsansässigen Juden überlebten die deutsche Besatzung Litauens. Ein Erinnern und Aufarbeiten der gemeinsamen historischen Schuld spielt bei der seit einigen Jahren wieder erstarkenden deutsch-litauischen Kooperation keine Rolle – im Gegenteil: In Vilnius werden Täter bis heute öffentlich geehrt. Berlin unternimmt im Kontext der Stationierung der Litauen-Brigade bis heute keinerlei Bemühungen, etwa anlässlich des Massakers in Nemencine an die systematische Ermordung der litauischen Juden zu erinnern. Es trägt durch sein Schweigen zum Verdrängen der Realität des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion bei.

 

Das Massaker von Nemencine

 

Wie Überlebende des Massakers in Nemencine berichteten, drangen Deutsche am 20. September 1941 dort früh morgens in Wohnungen von Juden und Jüdinnen ein, um sie unter „Schreien und Schlägen“ in der örtlichen Synagoge zusammenzutreiben und sie dort einzusperren – insgesamt rund 600 Menschen. Sie raubten die Juden aus, zwangen sie, sich in Reihen aufzustellen und zu einem Wald zu marschieren. Ein Überlebender erzählte, „schon von weitem“ seien die „ausgehobenen Gräber“ zu sehen gewesen. Viele versuchten zu fliehen. Viele wurden bei dem Versuch erschossen. Etwa hundert von ihnen gelang dennoch die Flucht. Die anderen wurden von Deutschen und kollaborierenden Litauern über den Gruben getötet. Insgesamt 500 Juden wurden an diesem Tag ermordet, 112 von ihnen Kinder. Der von dem SS-Standartenführer und Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Kaunas, Karl Jäger, erstellte „Jäger-Bericht“ protokollierte 403 Opfer. Vor dem Massaker hatten Deutsche und Litauer Juden noch gezwungen, um brennende Torahrollen zu tanzen, hatten sie verprügelt und Männern die Bärte ausgerissen.[1]

 

Vernichtung auf dem Land

 

Zu Jahresbeginn 1941 lebten in den ländlichen Regionen Litauens laut staatlicher Statistik 104.428 Juden. Im Sommer, gleichzeitig mit dem Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941, begannen die Deutschen mit einer „jede Vorstellungskraft sprengende[n] Mordkampagne“ an den litauischen Juden, wie der Historiker Christoph Dieckmann schreibt, der die deutsche Besatzungspolitik in Litauen umfassend untersucht hat.[2] Zu Jahresende hatten sie, unterstützt durch litauische Kollaborateure, etwa 100.000 Jüdinnen und Juden getötet und damit innerhalb weniger Monate alle ländlichen jüdischen Gemeinden in Litauen ausgelöscht. Die Massenmörder seien in ihrem Vorgehen so „extrem schnell“ gewesen, berichtet Dieckmann, dass für die jüdischen Gemeinschaften Flucht oder organisierter Widerstand „nur ganz vereinzelt“ möglich waren. Die systematischen Morde auf dem Land beging zunächst vor allem das sogenannte Rollkommando Hamann. Die Truppe unter dem Kommando des damals 28-jährigen SS-Obersturmführers Joachim Hamann war mit Fahrzeugen ausgerüstet, die es ihr ermöglichten, in ganz Litauen plötzlich und unerwartet aufzutauchen und Massaker zu begehen. Mit dem Aufbau einer deutschen Zivilverwaltung in Litauen eskalierten die Morde von anfänglichen Pogromen und Massenerschießungen schnell zur systematischen Auslöschung ganzer jüdischer Gemeinden – wie beispielsweise in Nemencine. Die Deutschen nahmen dabei die kommandierende Rolle ein und bedienten sich der tatkräftigen Unterstützung litauischer Hilfskräfte.

 

Geteiltes Feindbild

 

Zuvor war Vilnius seit Jahrhunderten ein überregionales Zentrum jüdischer Kultur gewesen – ein Zentrum nicht nur der litauischen, sondern auch der polnischen, der weißrussischen und der ukrainischen Juden. Der verantwortliche SS-Kommandeur Karl Jäger sprach seine Absicht, Litauen „judenfrei“ zu machen, offen aus.[3] Akribisch notierte er in seinem bereits erwähnten „Jäger-Bericht“ den von ihm organisierten Völkermord, Massaker für Massaker. Wehrmacht, SS, deutsche Zivilverwaltung und die litauischen Kollaborateure ermordeten arbeitsteilig über 95 Prozent der insgesamt rund 200.000 litauischen Juden. Zuvor hatten große Teile der litauischen Gesellschaft die deutschen Besatzer als „Befreier von der Sowjetunion“ empfangen; sie teilten zudem ihr Feindbild vom „jüdischen Bolschewismus“. Die Deutschen standen mit ihren größenwahnsinnigen Eroberungs- und Vernichtungsplänen in Osteuropa vor dem nicht unerheblichen Problem, dass Eroberung und anhaltende Kontrolle der okkupierten Gebiete sehr personalintensiv waren. Auch vor diesem Hintergrund gliederten die Deutschen ihre litauischen Kollaborateure gezielt in ihre Truppenstrukturen ein – und setzten so deutsche Soldaten für den weiteren Vormarsch gen Osten frei.

 

Verdrängen der Verbrechen

 

In Litauen werden damalige litauische Täter bis heute öffentlich geehrt (german-foreign-policy.com berichtete [4]). Kritik daran wird gern als russische Propaganda diffamiert. Auch aus Berlin kommt Rückenwind für die Geschichtsklitterung: In den vergangenen Jahren verweigerte Deutschland einer UN-Resolution die Zustimmung, die die Verherrlichung des deutschen Faschismus und seiner Kollaborateure verurteilt. In ihrer Begründung beteiligte sich die Bundesregierung an der Umdeutung der baltischen NS-Kollaborateure zu nationalen Befreiungskämpfern gegen die Sowjetunion.[5] Ein Überlebender der Vernichtung der litauischen Juden hatte 2018 die litauische Erinnerungskultur und die Ehrung von Kollaborateuren kommentiert: „Solange sie gegen Russland sind, sind sie Helden“.[6]

 

Lautes Schweigen

 

Von offiziellen deutschen Stellen in Bundeswehr, Verteidigungsministerium und Außenministerium hört man bezüglich der NS-Verbrechen in Litauen vor allem lautes Schweigen. Exemplarisch ist die Baltikumreise der damaligen deutschen Außenministerin Annalena Baerbock im April 2022, auf der sie ein Denkmal für die „Opfer des Kommunismus“ – nicht wenige von ihnen NS-Kollaborateure – besuchte, ein Gedenken an die Opfer der deutschen Massenverbrechen im Baltikum allerdings explizit nicht einplante. Auch in der Berichterstattung und in der Pressearbeit rund um den Aufbau der deutschen Brigade in Litauen spielt die Erinnerungsarbeit an die deutschen Verbrechen in dem Land keine Rolle. Bis jetzt gibt es etwa keinerlei Berichte darüber, dass deutsche Stellen oder deutsche Soldaten der Opfer des Massakers von Nemencine gedacht hätten. Einige deutsche Militärs scheinen in ihrer Erinnerungskultur andere Schwerpunkte zu legen: In Litauen stationierte Soldaten der Bundeswehr hatten 2017 in ihrer litauischen Kaserne ein Geburtstagsständchen für Adolf Hitler gesungen.[7] Während Russlands Kriegsführung in der Ukraine immer wieder als „Vernichtungskrieg“ bezeichnet wird, zeigt sich im Kontext der Debatte um die Litauen-Brigade in Deutschland eine zunehmende Verdrängung und Relativierung des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion.

 

* * * * *

[1], [2] Christoph Dieckmann. Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941-1944. Göttingen 2016. S. auch unsere Rezension.

[3] Wolfram Wette: Karl Jäger. Mörder der litauischen Juden. Frankfurt am Main 2011.

[4] S. dazu Von Tätern, Opfern und Kollaborateuren (III).

[5] S. dazu Das Gedenken der Wehrhaften.

[6] S. dazu Von Tätern, Opfern und Kollaborateuren (III).

[7] S. dazu In der Negativspirale.

 
     
  erschienen am 22. Mai 2025 auf > GERMAN-FOREIGN-POLICY > Artikel  
  Archiv > Artikel von German-Foreign-Policy auf antikrieg.com  
  Herzlichen Dank den Kollegen von German-Foreign-Policy für die freundliche Überlassung des Artikels!  
     
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