|
||||||||||||||
UN-Charta
wird 80: Warum geringschätzen die Europäer sie dermaßen? Die uneinheitliche Reaktion der EU auf Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine und im Nahen Osten offenbart ihre schwindende moralische Autorität auf der Weltbühne. Zachary Paikin
Vor 80 Jahren, am 26. Juni 1945, wurde die Charta der Vereinten Nationen in San Francisco unterzeichnet. Doch wer den europäischen Regierungen heute zuhört, würde davon nichts merken. Nach zwei verheerenden globalen militärischen Konflikten zielte die Charta ausdrücklich darauf ab, künftige Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren. Dies geschah durch das bekannte Verbot der Gewaltanwendung in Artikel 2 Absatz 4. Ausnahmen galten lediglich für Maßnahmen zur Selbstverteidigung gegen einen tatsächlichen oder unmittelbar bevorstehenden Angriff sowie vom UN-Sicherheitsrat genehmigte Missionen zur Wiederherstellung der kollektiven Sicherheit. Und doch veröffentlichten die Staats- und Regierungschefs der E3-Staaten (Großbritannien, Frankreich und Deutschland) nach dem US-Angriff auf das iranische Atomprogramm am vergangenen Wochenende eine gemeinsame Erklärung, die sich nicht auf das Völkerrecht bezog, geschweige denn auf die UN-Charta, deren 80. Jahrestag nur wenige Tage bevorstand. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erwähnte in ihrem Beitrag auf X die Risiken eines nuklearen Irans und die Notwendigkeit regionaler Stabilität vor der Achtung des Völkerrechts fast so, als wäre Letzteres zweitrangig. Als Russland 2022 seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begann, betonten die europäischen Staats- und Regierungschefs ganz sicher nicht die Notwendigkeit, die Stabilität auf dem europäischen Kontinent über alles zu stellen. Russlands illegale Invasion des Nachbarlandes wurde als Angriff auf Europa selbst und alles, wofür es stand, angesehen. Es wurden gewaltige Anstrengungen unternommen, um Moskau zu bestrafen und Kiew militärische und finanzielle Unterstützung sowie einen Weg zum Anschluss an den Westen zu ermöglichen. Die Staats- und Regierungschefs der EU befürworteten sogar die Einrichtung eines Sondertribunals, um Russland wegen des Verbrechens der Aggression anzuklagen. Aufgrund des Drucks der Trump-Administration haben sich die europäischen Entscheidungsträger endlich mit der Idee eines Waffenstillstands in der Ukraine auseinandergesetzt. Doch nach drei Jahren Krieg und Hunderttausenden Toten sind sie immer noch nicht zu einem echten und unvermeidlichen Kompromiss bereit. Das Recht der Ukraine auf einen NATO-Beitritt wird in vielen Kreisen weiterhin grundsätzlich verteidigt, obwohl der Ausschluss der Regierung die gesamte Diskussion hinfällig gemacht hat. Sanktionen können nicht aufgehoben werden, solange russische Truppen auf ukrainischem Boden verbleiben, nicht einmal teilweise, um einen heiklen Friedensprozess voranzutreiben. Russlands Invasion in der Ukraine, so wurde uns gesagt, stelle die Welt vor eine binäre Wahl: Entweder für den Erhalt der regelbasierten internationalen Ordnung zu kämpfen oder in eine gefährliche neue Realität einzutreten, die vom Gesetz des Dschungels geprägt ist. Fairerweise muss man sagen, dass die regelbasierte Ordnung immer ein bewusst undurchsichtiger Begriff war, der es einer Untergruppe von Staaten ermöglichen sollte, die Bedingungen für legitimes zwischenstaatliches Verhalten zu diktieren. Während die USA unter Joe Biden diese Ordnung als einen Block mit Befürwortern und Gegnern konzipierten, schienen die Europäer sie ernsthafter als neutrale Beschreibung des globalen Systems nach dem Zweiten Weltkrieg zu betrachten, das auf Multilateralismus, Völkerrecht und friedlicher Streitbeilegung beruhte. Leider offenbarte Russlands Invasion in der Ukraine Europas sicherheitspolitische Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten und vertiefte sie sogar noch. Dies geschah, nachdem die sich in den Jahren vor dem Krieg verschlechternden Beziehungen der EU zu Russland bereits die Spannung zwischen Brüssels Wunsch, die Sprache der Macht zu sprechen, und dem normativen Handeln verdeutlicht hatten. Grundsätzlich könnte kein Drittland ein Veto gegen die für beide Seiten vorteilhafte Zusammenarbeit zwischen der EU und der Ukraine einlegen doch was wäre, wenn eine solche Zusammenarbeit die Sicherheitsspannungen auf dem Kontinent verschärfen und daher von zweifelhaftem strategischen Nutzen wäre? Vor drei Jahren klopften sich die Brüsseler Eliten über die Wiederbelebung der transatlantischen Einheit und den neu gewonnenen Status der EU als geopolitischer Akteur auf die Schulter. Unbemerkt von ihnen legten sie damit den Grundstein dafür, dass die Welt bei jedem europäischen Verweis auf die regelbasierte internationale Ordnung die Augen verdrehen würde. Dass sich die europäischen Staats- und Regierungschefs trotz des großen (und offenkundigen) Grabens, der sich unter Trump zwischen ihnen aufgetan hat, weiterhin auf die Seite der USA stellen, spricht Bände. Künftig werden Appelle an internationale Normen im Fall der Ukraine deutlich weniger greifen. Es ist sonnenklar, dass sich die europäischen Regierungen in der Ukraine nicht aus Gründen universeller Prinzipien, sondern aufgrund ihrer vermeintlichen Sicherheits- (und statusbezogenen) Interessen und Ängste gegen Kompromisse wehren. Ironischerweise wird dies auf Kosten von Europas Fähigkeit gehen, einen Großteil der übrigen Welt für seine Strategie der Isolierung Russlands und des zunehmenden Drucks auf Wladimir Putin zum Kompromiss zu gewinnen. Zwanzig Monate israelischer Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht im Gazastreifen haben nicht zu einem nennenswerten Bruch in den Beziehungen zwischen Jerusalem und den europäischen Hauptstädten geführt. In diesem Fall ließe sich zumindest argumentieren, dass auch die Hamas systematisch gegen das Kriegsrecht verstoßen hat. Der Angriff Israels auf den Iran war jedoch ein eindeutiger Verstoß gegen das Völkerrecht ein Präventivkrieg statt eines Präventivschlags, der darauf abzielte, eine ungünstige Sicherheitslage in der Zukunft abzuwenden, anstatt eine unmittelbare Bedrohung abzuwehren. In diesem Sinne war er dem russischen Einmarsch in die Ukraine nicht ganz unähnlich, der angeblich darauf abzielte, Kiews engere Beziehungen zur NATO zu stoppen. Allzu oft hören wir, dass die Existenz einer regelbasierten internationalen Ordnung die unabdingbare Voraussetzung für eine Europäische Union sei, die selbst eine regelbasierte Organisation mit 27 gleichberechtigten Mitgliedstaaten ist. Doch Europas offensichtliche Doppelmoral in der Reaktion auf die Ereignisse der letzten drei Jahre hat seine widersprüchlichen Bestrebungen und die Orientierungslosigkeit seiner Außenpolitik offengelegt. Mit der US-Invasion im Irak und dem jüngsten Angriff Russlands auf die Ukraine haben die Großmächte einen Präzedenzfall geschaffen, dem aufstrebende Mittelmächte nur allzu gerne nacheifern. Um diesen Trend umzukehren, müssen die europäischen Regierungen Verstöße gegen das Völkerrecht konsequenter verurteilen. Sie sollten zudem erwägen, eine globale Koalition für die Schaffung neuer und strengerer internationaler Normen zur Regulierung des Gewalteinsatzes zu mobilisieren eine Kampagne, die auch die Chance bieten würde, die Beziehungen zu den Staaten des Globalen Südens neu auszurichten, die durch Europas Reaktion auf den Krieg in der Ukraine entfremdet wurden. Darüber hinaus ist es Ländern wie Aserbaidschan und Israel in den letzten Jahren gelungen zu zeigen, dass Konflikte, von denen hochgesinnte Internationalisten behaupteten, sie könnten nur politisch gelöst werden, letztlich doch militärisch gelöst werden können. Es ist unerlässlich, dass Europa mit gutem Beispiel vorangeht und der Welt die Botschaft sendet, dass Diplomatie und nicht militärischer Zwang der beste Weg ist, seine politischen Ziele zu erreichen. Wäre Europa einem echten Kompromissfrieden mit Russland gegenüber aufgeschlossener einem Frieden, der Meinungsverschiedenheiten beilegt, aber zentrale internationale Normen bekräftigt , würde dies eindrücklich bekräftigen, dass Verhandlungen und nicht territoriale Gewinne das zuverlässigste Mittel zur Wahrung der eigenen Sicherheitsinteressen darstellen. Erfolgreiche Verhandlungen würden zudem dazu beitragen, einen jahrzehntelangen Kalten Krieg zu verhindern, der in einen heißen Krieg umzuschlagen droht der der Welt den Todesstoß versetzt, den abzuwenden die UN-Charta vorgesehen hat. |
||||||||||||||
erschienen am 26. Juni 2025 auf > RESPONSIBLE STATECRAFT > Artikel | ||||||||||||||
Dr. Zachary Paikin ist stellvertretender Direktor des Better Order Project und Research Fellow im Grand Strategy Program des Quincy Institute for Responsible Statecraft. Er ist außerdem Senior Fellow am Institute for Peace & Diplomacy (IPD). | ||||||||||||||
> | < | |||||||||||||
> AKTUELLE LINKS | ||||||||||||||
|
||||||||||||||
Im ARCHIV finden Sie immer interessante Artikel! | ||||||||||||||
Die Weiterverbreitung der Texte auf dieser Website ist durchaus erwünscht. In diesem Fall bitte die Angabe der Webadresse www.antikrieg.com nicht zu vergessen! | ||||||||||||||
<<< Inhalt |