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  Robin Philpot  
  Ruanda 1994 - die inszenierte Tragödie  
     
  Kapitel 12: Eine Inkarnation des kolonialen Europa – Colette Braeckman

 

Nach einer kurzen Periode der Untätigkeit und einem bisschen Selbstzweifel an seiner einstigen imperialen Mission kann der Westen leicht wieder bereit sein, seinen alten Herrschaftsanspruch in der Welt anzutreten.

Chinua Achebe, Home and Exile

 

Als Colette Braeckman ihr Buch Rwanda, Histoire d’un génocide unmittelbar nach dem Krieg in Ruanda im Herbst 1994 veröffentlichte, tat sie das ihren beiden Rollen als Reporterin und als Redakteurin. Wie alle Kriegskorrespondenten reiht sie Fakten aneinander, serviert Hypothesen und zitiert Aussagen von politischen Führern, die, wie es aussieht, nicht umhin gekommen sind, ihr angesichts ihrer Position als Reporterin für die Brüsseler Tageszeitung Le Soir und für die einflussreiche französische Monatszeitschrift Le Monde diplomatique für Interviews zur Verfügung zu stehen. In ihren Schriften gibt es einen Überfluss von Informationen, denen es oft an der Wahrheit mangelt, die bekanntlich als erste allen Kriegen zum Opfer fällt. Wenn Frau Braeckman redigiert, kommt die Selbstgerechtigkeit von Ruandas früheren imperialen Beherrschern zum Durchbruch, eine unverhohlene Vorliebe für die RPF und eine bemerkenswert nachsichtige Einstellung gegenüber ihren belgischen Landsleuten und besonders gegenüber den belgischen Truppen.

Ihre sehr wohlwollende Behandlung von Paul Kagame und der RPF folgt der populären literarischen Tradition insofern, als Präsident Kagame nichts falsch machen kann (Frau Braeckman hat anscheinend ihre Einstellung nach Erscheinen des Buchs geändert, ihre eigenen Schriften aber nicht in Frage gestellt). Alle anderen politischen Führer, beginnend mit Präsident Habyarimana werden beschimpft und verleumdet. Wenn Führer so verachtenswert sind, sind die von ihnen Geführten offensichtlich umso schlimmer.

Die belgischen Truppen andererseits sind für Frau Braeckman die reinsten Unschuldslämmer. Entrüstet berichtet sie, dass schon 1990 Ruander gewagt hätten, belgische Soldaten zu bezichtigen, sie seien hinter ruandischen Mädchen her und hätte sogar einige vergewaltigt. Natürlich weiß jeder, dass europäische und amerikanische Soldaten in Afrika nicht einmal daran denken würden, sich so zu benehmen. Andererseits entrüstet sie sich nicht, ja erwähnt nicht einmal, dass belgische Truppen vor Verlassen des Landes ihr Hotel in Kigali und den internationalen Flughafen geplündert und mit ihren Exkrementen beschmutzt haben. Sie erwähnt auch nicht und entrüstet sich auch nicht über die belgischen Soldaten, die eine ruandische Fahne vor den Augen von Angehörigen der ruandischen Armee zerfetzt haben. 111 Überrascht es, dass die belgischen Truppen in einem dermaßen schlechten Ruf standen, als sie Ruanda verließen?  

Frau Braeckman zählt ihre Fakten auf und entwickelt daraus ungeniert Theorien, die ihre eigene Analyse bestätigen, dass Ruanda zwischen 1990 und 1994 von der RPF „befreit“ wurde. Autoren haben vorsichtig vorzugehen, wenn sie Bücher so kurz nach einer schweren internationalen Krise veröffentlichen, da sich ihre Annahmen und Schlussfolgerungen als falsch herausstellen können und ihr ganzes Buch dadurch in Verruf kommen kann.

Das passierte Colette Braeckman, die unmissverständlich behauptete, der Mord an Präsident Habyarimana am 6. April 1994 sei von „Hutu-Extremisten“ in seiner Umgebung geplant und ausgeführt worden. Davon als unumstößlichem Evangelium ausgehend entwickelt sie ausgefinkelte Theorien über Mentalität, Motive und Taten aller Hutus, die in Ruanda und Burundi von 1990 bis 1994 in der Regierung waren. Innerhalb von wenigen Monaten nach der Veröffentlichung ihres Buchs zeigten einige verlässliche Analysen und Untersuchungen, dass der Mord nicht so ausgeführt wurde, wie sie angenommen hatte. Große Teile ihres Buchs wurden dadurch völlig falsch und irrelevant. In den meisten Fällen verliert ein Autor infolge derart eklatanter Fehler seinen Ruf als ernstzunehmende Quelle. Nicht so Frau Braeckman, die weiterhin überall als Autorität zitiert wird.

Ähnlich weit lehnt sich die Autorin aus dem Fenster, wenn sie nachweist, dass die RPF keine Formation auf ethnischer Basis ist. Ihre Methode ist, die ruandischen Hutu-Führer zu zitieren und anzupreisen, die bereit waren, an der von der siegreichen RPF eingerichteten Regierung teilzunehmen, Leute wie Ministerpräsident Faustin Twagiramungu, Innenminister Seth Sendashonga, Justizminister Alphonse-Marie Nkubito und Präsident Pasteur Bizimungu. Zum Unglück für sie – und für ihr Buch – flohen alle diese Leute aus dem Land, wurde ermordet oder eingesperrt in den Monaten und Jahren nach dem Erscheinen ihres Buchs. Alle wurden beschuldigt, der „Ideologie des Genozids“ anzuhängen, einige der Beteiligung am Genozid. Daraus ergibt sich, dass weitere große Teile ihres Buchs wertlos geworden sind. 

Ein weiterer Fall von haarsträubender Einseitigkeit einer Kriegsberichterstatterin ist ihre Behauptung, die Million Menschen, die im Krieg zwischen 1990 und 1994 aus dem Norden Ruandas in Lager rund um Kigali geflüchtet waren, wären unwissentlich der machiavellistischen Politik der Habyarimana-Regierung zum Opfer gefallen und nicht Opfer der Gewalt und terroristischen Taktiken der RPF-Invasionsarmee.

Kriegsberichterstatter werden immer mit der einen oder anderen Seite in Verbindung gebracht und wenige zweifeln an ihrer Rolle, den Ausgang des Krieges zu beeinflussen. Man denke an Winston Churchill im Burenkrieg, Rudyard Kipling, Peter Arnett im Golfkrieg, und viele mehr. In den meisten Fällen sind ihre Verbindungen und sogar ihre Vorlieben bekannt und werden zugegeben. Nicht so im Fall der Colette Braeckman, die behauptet, sie sei eine neutrale Beobachterin.

Frau Braeckman verfällt ganz augenscheinlich in die populäre literarische Tradition bezüglich Afrikas, wenn sie die Pfade des Journalismus verlässt und versucht, Ursprung und Ursachen der ruandischen Tragödie zu erklären. Am Ende ihrer Einführung unter dem Titel „Es war einmal“ enthüllt sie ihre wirklichen Gedanken über Afrika und Afrikaner. Im Lauf ihrer Geschichte tauchen diese Gedanken immer wieder auf, entweder als rhetorische Fragen oder in sorgfältig ausgewählten Zitaten.

Es ging nicht um Krieg oder politische Unterdrückung. Es ging darum, ein ganzes Volk auszulöschen im Namen der Volkszugehörigkeit und jegliche Spur seiner Existenz aus der Menschheitsgeschichte zu tilgen. Haben wir es zu tun mit der letzten Inkarnation des vorkolonialen Afrika, der „Wildheit“? ... Dämonen tanzen in den Köpfen der Menschen. Wahnsinn lauert überall. Der Ansturm von Blut, Fieber und Furcht hat alle Grenzen gesprengt. 112 

„Die letzte Inkarnation des vorkolonialen Afrika“, meint Colette Braeckman. Obwohl sie ein Fragezeichen anhängt, ist ihre Ansicht klar. Sie meint, dass die „Wildheit“, von der sie schreibt, eine Reinkarnation Afrikas aus der Zeit ist, in der die zivilisierenden Europäer eintrafen. Afrika war also dabei, sich zurück zu verwandeln in den Zustand, in dem es sich befand, ehe die Europäer mit ihrer Mission begannen, diese Heiden zu zivilisieren. Ungeachtet aller ihrer tapferen Anstrengungen hatte diese Mission keinen Erfolg bei der Zähmung der barbarischen Natur der Afrikaner. Sich selbst überlassen konnten sie einfach nicht ihre Instinkte unter Kontrolle halten, welche „sie in einen Zustand jenseits von Gut und Böse versetzten“, wie sie schreibt. 

Die Reporterin Braeckman wagt auch ein paar Mutmaßungen über die philosophischen Gründe der Tragödie, versucht aber, sich zumindest ein bisschen davon zu distanzieren, indem sie europäischen Missionaren in Ruanda in Zitaten den Vortritt lässt. 

Die Missionare erkannten das Ungeheuer, das wild das Land durchstreifte. Der wahnsinnige Blick der Milizangehörigen, der unbarmherzig wütende Blick der Bauern, die Lügenmaschine des Rundfunks, die Sophismen der Intellektuellen, mit denen sie die Massen manipulierten, ließen keinen Zweifel an dem, was vorging. Sie sahen vor sich ihren alten Feind, den Fürsten der Finsternis, den Gottseibeiuns. „Der Teufel ist zurück auf der Erde“, riefen sie. 113

Der Mensch, so Frau Braeckman, befand sich somit jenseits der Werte von Gut und Böse, obwohl alle Ruander christianisiert waren und viele Jahre lang Unterricht in Menschenrechten, Kriegsrecht und den notwendigen Schutzmaßnahmen für Frauen und Kinder bekommen hatten. „Ist es möglich,“ fügt sie hinzu „dass der unvermittelte Vertrag dieser altertümlichen geschlossenen Gesellschaften mit der europäischen Welt, die koloniale Eroberung und die dadurch hervorgerufenen sozialen Zerrüttungen plötzlich alte kulturelle Tabus gebrochen hatten? Und dass die aufgepfropfte christliche Religion nicht nur keine Wurzeln geschlagen, sondern ein Jahrhundert später eine totale und selbstzerstörerische Abwehrreaktion heraufbeschworen hat?

In anderen Worten, das Christentum war auf den afrikanischen Körper aufgepfropft worden, aber eine solche Aufpfropfung war unmöglich. Der afrikanische Körper wies diese Aufpfropfung zurück und zerstörte sich dabei selbst. Sollte das schwer verständlich sein, zitiert die Autorin einen ruandischen Bischof: „Die christliche Botschaft ist nicht eingedrungen. Nach einem Jahrhundert der Verkündigung des Evangeliums müssen wir wieder von vorne beginnen.“ 

Für Carol Off war das Christentum ein „Überzug“, der den urtümlichen afrikanischen Kräften nicht standhalten konnte. Für Gil Courtemanche bestand der ruandische „Katechismus“ aus Hass, Gewalt, Hexerei und Lügen und Kirchen waren Krematorien. Für Filip Gourevitch verhielten sich die Ruander wie Herden, die blind einem konvertierten Häuptling nachliefen, um sich taufen zu lassen.

Diese Viererbande stimmt in einem Punkt überein: die Ruander waren einfach nicht imstande, das Christentum richtig anzunehmen. Wenn sie auch die Rituale übernommen haben, waren sie doch „nie in der Lage, sich von den unwiderstehlichen Kräften ihrer Umgebung und dem finsteren Erbe ihrer Ahnen zu befreien“, wie schon 1958 ein anderer Schönfärber des Imperiums geschrieben hat. 114   

Über ihre Annahme hinaus, die religiösen Gepflogenheiten von Afrikanern beurteilen zu können, beinhalten die Brandmarkungen dieser Autoren eine noch dunklere Botschaft. Gäbe es nämlich eine Verbindung zwischen der vermuteten Abwehr der Bedeutung und der Werte des Christentums und der „Wildheit“, die sie so gerne beschreiben, hätten sich die Afrikaner die ganzen Scherereien ersparen können, wären sie nur in der Lage gewesen, die Religion der Europäer richtig aufzunehmen. Daraus ergibt sich, dass die Rettung nur in Jesus gefunden werden kann. Oder hat Europa bei seiner Zivilisierungsmission zu früh das Handtuch geworfen? 

Die bis zum Erbrechen heruntergebetete Meinung, dass die Afrikaner die christliche Botschaft nicht richtig verstanden haben, ist von Grund auf und ekelhaft ethnozentrisch. Historisch gesehen kommen auf jeden Christen, der im Namen seiner Religion für Frieden, Gleichheit der Menschen, Gerechtigkeit und Freiheit gekämpft hat, mindestens zehn Christen, die im Namen der selben Religion Kriege erklärt, Länder überfallen und erobert, unschuldige Menschen abgeschlachtet, Millionen Menschen versklavt, ganze Völker und Länder kolonialisiert, Konzentrationslager eröffnet und die Zivilbevölkerung bombardiert haben. Die Behauptung oder auch nur der Hinweis, dass Massaker in Ruanda beweisen, dass die christliche Botschaft nicht richtig aufgenommen worden ist, heißt 2000 Jahre Geschichte zu ignorieren und zu verschleiern.

Die beste Antwort auf derlei Ansichten kam von Muhammad Ali. Als er das World Trade Centre in New York nach der Attacke am 11.9.2001 besuchte, fragte ihn ein Reporter, was er bei dem Gedanken fühle, dass die Verdächtigten wie er dem islamischen Glauben angehörten. Ali antwortete freundlich: „Wie fühlen Sie bei dem Gedanken, dass Sie der gleichen Religion wie Hitler angehören?“

Neben ihrem Auftritt als Theologin, die Religionen beurteilt, begibt sich Frau Braeckman auch auf das Gebiet afrikanischer Kunst und Kultur und vermutet hier einen kausalen Zusammenhang mit der Gewalt. Das unabhängige Ruanda, behauptet sie, weist kaum repräsentative Symbole auf. Seine bildende Kunst ist „schäbig und infantil“. Sie fragt, rhetorisch wie üblich, ob die Abwesenheit von Mitteln künstlerischen Ausdrucks auch „eine Quelle der Gewalt“ sein könnte, gemäß ihrer Theorie, dass Ruander schnell zu Mord und Totschlag bereit sind, da die Möglichkeit einer symbolischen Äußerung auch auf sprachlicher Ebene nicht gegeben ist. 

Völker die unter Fremdherrschaft gestanden oder kolonialisiert worden sind und für die Aufrechterhaltung ihrer Würde gekämpft haben oder kämpfen, kennen derlei Geschwätz. Viele mussten sich viele Jahre lang anhören, sie hätten keine Literatur, keine Kultur, keine Geschichte und daher wirklich kein Recht, überhaupt zu existieren.

Colette Braeckmans Buch kam 1994 heraus, etwa 34 Jahre nachdem die belgischen Kolonialisten Afrika verlassen haben. In ihrem Buch propagiert die Autorin ein historisches Denkmuster, das die vergangenen 34 Jahre in Ruanda als ununterbrochenen Abstieg in die Hölle präsentiert, was sie auch ständig wiederholt. „Dreißig Jahre lang wurde Ruanda von einer genozidalen Kultur durchdrungen.“ „In dreißig Jahren hat Propaganda die Bedeutung von Gut und Böse ausgerottet.“ Ihre Botschaft könnte nicht klarer sein. Vor 1960, als Belgien die Gewalt über diesen Teil Afrikas ausübte, war Ruanda gegen das Böse beschützt, das es bedrohte. Seit damals sind die Ruander sich selbst überlassen und man sieht, was dabei herausgekommen ist.

In ihrem Buch spricht Frau Braeckman über „eine letzte Inkarnation des vorkolonialen Afrika“. Es wäre schwierig, eine bessere „Inkarnation des kolonialistischen Europa und dessen zivilisatorischer Sendung“ zu finden als Frau Braeckman selbst.

 


 

111 Luc MARCHAL, Rwanda : la descente aux enfers, témoignage d’un peacekeeper, décembre 1993 – April 1994, Éditions Labor, pp. 259-260. S. auch im Interview mit Gilbert Ngijol, politischer Assistent von Jacques-Roger BOOH-BOOH, Sonderbotschafter des UNO-Generalsekretärs für Ruanda.

112 Braeckman, op. cit. s. 19. (unsere Übersetzung).

113 Idem s. 236.

114 Raymond Tong, Figures in Ebony, London, Cassell and Company, 1958, s. 86.

 
     
 
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