HOME     INHALT     INFO     LINKS     ARCHIV     KONTAKT
 
     
 
"Europa krümmt sich wie der Wurm, ehe ihn der Stiefel zertritt." - Karl Kraus
"Fuck the EU" - Victoria Nuland
 
     
  Die abscheuliche Heuchelei des Westens

Eine Palästinenserin spricht

Susan Abulhawa

 

Die Leichen der drei israelischen Siedler, die seit dem 12. Juni vermisst waren, wurden – hastig verscharrt – in der Nähe von Hahul, nördlich von Hebron, gefunden.

Seit die Jugendlichen von Gush Etzion, einer Siedlung nur für Juden im Westjordanland, verschwunden sind, bedrängt Israel die vier Millionen Palästinenser, die bisher schon unter seiner Knute leben. Die Soldaten stürmen durch ihre Städte, durchstöbern ihre Häuser und zivilen Institutionen, machen nächtliche Razzien bei Familien, stehlen deren Eigentum, entführen, verletzen und töten. Flugzeuge werden losgeschickt, um Gaza zu bombardieren, wieder und wieder, um noch mehr Häuser und Institutionen zu zerstören und außergerichtliche Tötungen vorzunehmen.

Bis 1. Juli wurden mehr als 570 Palästinenser festgenommen und ins Gefängnis geworfen, darunter vor allem auch Samer Issawi, der Palästinenser, der mit einem 266 Tage dauernden Hungerstreik gegen seine willkürliche Inhaftierung protestiert hatte und entlassen worden war. Mindestens 10 Palästinenser wurden getötet, einschließlich dreier Kinder, einer schwangeren Frau und eines schwachsinnigen Mannes. Hunderte wurden verletzt, Tausende terrorisiert. Büros von Universitäten und Wohlfahrtsorganisationen wurden durchsucht und geschlossen, ihre Computer und sonstige Geräte zerstört oder gestohlen und sowohl private als auch offizielle Dokumente ziviler Organisationen beschlagnahmt.

Dieses rücksichtslose Vorgehen ist offizielle Politik des Staates, ausgeführt durch das Militär, und schließt die Gewalt gegen Personen und Sachen, die von paramilitärischen israelischen Siedlern ausgeht, nicht ein. Auch deren andauernde Angriffe auf palästinensische Zivilisten haben in den vergangenen Wochen zugenommen. Und nun, nachdem der Tod der jugendlichen Siedler bestätigt ist, hat Israel Rache geschworen. Naftali Bennet, der Wirtschaftsminister, sagte: „Keine Gnade für die Kindermörder. Jetzt ist die Zeit für Taten, nicht für Worte.“

Obwohl keine der palästinensischen Gruppen die Verantwortung für die Entführung übernommen hat und die meisten, vor allem die Hamas, jede Verbindung dazu verneinen, beharrt Benjamin Netanjahu darauf, dass Hamas dahinter stecke. Die Vereinten Nationen forderten von Israel Beweise für diese Behauptung, aber bisher sind keine vorgelegt worden, was Zweifel an Israels Darstellung weckt, insbesondere angesichts der öffentlich geäußerten Wut über die jüngste Einigung zwischen den palästinensischen Fraktionen und Präsident Obamas Anerkennung der neuen palästinensischen Einheitsregierung.

Im Westen haben die Schlagzeilen über den Bildern der drei israelischen Jugendlichen das israelische Terrorregime in Palästina beschönigend als „Fahndung nach den Tätern“ und „militärische Razzien“ dargestellt. Portraits der unschuldigen jungen Israelis wurden von den Nachrichtenagenturen verbreitet, und die Stimmen der Eltern wurden in ihrem ganzen Kummer zur Geltung gebracht. Die USA, die EU, Großbritannien, die UNO, Kanada und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IRK) haben die Entführung verurteilt und forderten die sofortige und bedingungslose Freilassung der Jugendlichen. Nach Auffinden der Leichen ergoss sich eine mediale Welle der Verurteilung und des Mitgefühls.

Präsident Obama sagte, „als Vater kann ich mir das unbeschreibliche Leid nicht vorstellen, das die Eltern dieser Jugendlichen mitmachen. Die Vereinigten Staaten verurteilen diesen sinnlosen Akt des Terrors gegen unschuldige Jugendliche aufs Schärfste.“

Obwohl Hunderte palästinensischer Kinder durch Israel entführt, brutal behandelt und getötet werden – etliche allein in den vergangenen zwei Wochen –, gibt es kaum je, wenn überhaupt, eine ähnliche Reaktion der Weltöffentlichkeit.

Kurz vor dem Verschwinden der jungen Siedler wurde der Mord an zwei palästinensischen Jugendlichen von einer örtlichen Überwachungskamera festgehalten. Klare Beweise, einschließlich der aufgefundenen Gewehrkugeln und der CNN-Filmaufnahmen, die den israelischen Scharfschützen zeigen, wie er in genau dem Moment abdrückt, als einer der Jungen erschossen wurde, zeigen, dass sie von israelischen Soldaten kaltblütig ermordet wurden. Es gab keinerlei Verurteilung oder Rufe nach Gerechtigkeit für diese Jugendlichen von Seiten führender Politiker oder internationaler Institutionen, keine Solidarität mit den trauernden Eltern, keine Erwähnung der über 250 palästinensischen Kinder, die aus ihren Betten heraus oder auf ihrem Schulweg entführt wurden, die immer noch ohne Anklage oder Prozess, physisch und psychisch gefoltert, in israelischen Gefängnissen schmachten. Ganz zu schweigen von der barbarischen Belagerung des Gazastreifens oder den Jahrzehnten des anhaltenden Diebstahls, der Ausweisungen, der Angriffe auf Bildungseinrichtungen, des Landraubs, der Hauszerstörungen, des Systems farblich unterschiedlicher Passierscheine, der willkürlichen Verhaftungen, Bewegungseinschränkungen, Kontrollposten, außergerichtlichen Tötungen, Folter und Zutrittsverboten an jeder Ecke, die die Palästinenser in isolierte Ghettos zwingen.

Nichts davon scheint von Bedeutung.

Es spielt keine Rolle, dass bisher niemand weiß, wer die israelischen Jugendlichen ermordet hat. Das ganze Land scheint nach palästinensischem Blut zu lechzen, was an Lynchmorde an Schwarzen in den amerikanischen Südstaaten erinnert, die verübt wurden, wann immer ein Weißer tot aufgefunden wurde. Es spielt auch keine Rolle, dass diese israelischen Jugendlichen Siedler waren, die in einer der illegalen, nur für Juden bestimmten Kolonien lebten, auf zumeist vom Staat privaten palästinensischen Besitzern gestohlenem Land des Dorfes el-Khader. Der überwiegende Teil der Siedler dort sind Amerikaner, vorwiegend aus New York, wie einer der ermordeten Jugendlichen, die über das Privileg zweier Staatsbürgerschaften verfügen, die – wo auch immer sie herkommen – ein zweites Land haben, ihr eigentliches Heimatland und das unsere, während die einheimischen Palästinenser in Flüchtlingslagern, in belagerten Ghettos oder im endlosen Exil ausharren.

Palästinensische Kinder werden tagtäglich angegriffen oder ermordet, und kaum je wird in der westlichen Presse darüber berichtet. Während palästinensischen Müttern häufig gar die Schuld gegeben wird, wenn Israel ihre Kinder tötet, und ihnen vorgeworfen wird, dass sie sie in den Tod schicken, anstatt sie – außer Reichweite israelischer Heckenschützen – im Hause zu behalten, verlangt niemand einen Kommentar von Rachel Frankel, der Mutter eines der ermordeten Siedler, zu der Tatsache, dass einer der Entführten ein Soldat war, der vermutlich an der Unterdrückung seiner palästinensischen Nachbarn beteiligt war. Niemand fragt, warum sie mit ihrer Familie aus den USA einwanderte, um in einer nur von Juden mit Herrschaftsanspruch bewohnten Kolonie zu leben, die auf dem von einheimischen nicht-jüdischen Besitzern konfiszierten Land errichtet wurde. Auf keinen Fall würde jemand es wagen, ihr vorzuwerfen, sie hätte damit ihre Kinder Gefahren ausgesetzt.

Keine Mutter sollte die Ermordung ihres Kindes erleiden müssen, keine Mutter, kein Vater. Das gilt nicht nur für jüdische Eltern. Das Leben unserer Kinder ist nicht weniger kostbar, ihr Verlust nicht weniger erschütternd und kein geringeres Trauma. Aber der Wert eines Lebens wird hier von Seiten des Staates wie der ganzen Welt erschreckend unterschiedlich beurteilt: Ein palästinensisches Leben ist wertlos und verfügbar, ein jüdisches Leben dagegen sakrosankt.

Die Einzigartigkeit und Überlegenheit jüdischen Lebens ist ein fundamentaler Grundsatz des Staates Israel. Er durchzieht jedes seiner Gesetze, sämtliche Regularien, und er passt zu der offensichtlichen Verachtung und Missachtung palästinensischen Lebens – sei es durch Gesetze, die Juden bei der Arbeitssuche oder bei Bildungschancen bevorzugen, oder durch Gesetze, die Nicht-Juden vom Kauf oder der Anmietung von Wohnungen in jüdischen Vierteln ausschließen, oder durch die zahllosen Militärverordnungen, die Bewegungsfreiheit, Wasserverbrauch, Zugang zu Lebensmitteln, Bildung, Heiratsmöglichkeiten und wirtschaftliche Unabhängigkeit der Palästinenser einschränken, und schließlich die Tatsache, dass das Leben der palästinensischen Zivilgesellschaft regelmäßig auf den Kopf gestellt wird. Das Leben von Nicht-Juden entspricht so dem religiösen Erlass des Oberrabbiners von Hebron und Kiryat Arba, Dov Lior: „Tausend nichtjüdische Leben sind nicht so viel wert wie ein jüdischer Fingernagel.“

Die israelische Gewalt der vergangenen Wochen wird allgemein akzeptiert und erwartet. Und der Terror, mit dem sie unser Volk gewiss noch überziehen werden, wird wie immer durch die Legitimität der Uniformen und der technischen Todesmaschinerie bemäntelt werden. Israels Gewalt, wie obszön auch immer, wird unweigerlich als heroische dargestellt, die westliche Medien „Antwort“ nennen, als ob der palästinensische Widerstand nicht selbst die Antwort wäre auf die israelische Unterdrückung. Als das IRK aufgefordert wurde, einen ähnlichen Aufruf zur sofortigen und bedingungslosen Freilassung von Hunderten von palästinensischen Kindern in israelischen Gefängnissen (ebenfalls ein Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht) zu veröffentlichen, weigerte sich das IRK mit dem Hinweis, dass es einen Unterschied gebe zwischen dem Einzelfall der Entführung israelischer Jugendlicher und der routinemäßigen Entführung, Folterung, Isolation und Inhaftierung palästinensischer Kinder.

• Wenn unsere Kinder Steine werfen auf schwer bewaffnete israelische Panzer und Militärfahrzeuge, die durch unsere Straßen fahren, sind wir verachtenswerte Eltern, die die Ermordung unserer Kinder zu verantworten haben, wenn sie von israelischen Soldaten oder Siedlern erschossen werden.

• Wenn wir uns weigern, bedingungslos zu kapitulieren, sind wir keine „Partner für den Frieden“, und wir verdienen es nicht anders, als dass noch mehr von unserem Land konfisziert wird für den exklusiven Gebrauch durch Juden.

• Wenn wir zu den Waffen greifen und zurückschlagen, einen Soldaten entführen, sind wir Terroristen der übelsten Sorte, die selbst schuld sind, wenn Israel die gesamte palästinensische Bevölkerung kollektiver Bestrafung unterwirft.

• Wenn wir friedlich protestieren, sind wir Randalierer, die es verdient haben, mit scharfer Munition beschossen zu werden.

• Wenn wir argumentieren, schreiben, boykottieren, sind wir Antisemiten, die zum Schweigen gebracht, deportiert, marginalisiert und strafrechtlich verfolgt werden sollten.

Was sollen wir also tun? Palästina wird buchstäblich von der Landkarte getilgt durch einen Staat, der offen von der jüdischen Überlegenheit und der Privilegierung der Juden ausgeht. Unser Volk wird weiter seines Heimatlandes und seines historischen Erbes beraubt, an den Rand des Menschseins gedrängt und verantwortlich gemacht für sein elendes Schicksal: „Selbst schuld!“ Wir sind eine traumatisierte, im Prinzip wehrlose einheimische Bevölkerung, die zerstört und vernichtet wird durch eine der größten Militärmächte.

Rachel Frankel wandte sich mit der Bitte um Hilfe an die UNO mit den Worten, dass es „unrecht ist, Kinder, unschuldige Jungen oder Mädchen, gefangen zu nehmen und sie als Druckmittel in welcher Auseinandersetzung auch immer zu verwenden. Es ist grausam ... Ich frage: Hat nicht jedes Kind das Recht, sicher von der Schule nach Hause zu kommen?“ Gelten solche Gefühle nicht auch im Hinblick auf palästinensische Kinder? Hier und hier und hier und hier und hier und hier (verlinkt wird hier auf Videoaufzeichnungen, die zeigen, wie palästinensische Kinder in der Nacht aus ihren Häusern und auf ihrem Weg zur oder von der Schule entführt werden).

Aber auch das alles zählt nicht. Oder etwa doch? Es zählt, dass drei israelische Juden getötet wurden. Es spielt keine Rolle, wer es getan hat oder unter welchen Umständen es geschah, man wird jedenfalls die gesamte palästinensische Bevölkerung dafür leiden lassen, mehr noch als bisher schon.

 
     
  erschienen am 3. Juli 2014 auf > The Hindu > Artikel  
  Mit Dank übernommen von www.kritisches-netzwerk.de (Artikel), Übersetzung von Jürgen Jung  
 
siehe dazu im Archiv:
  Ismael Hossein-zadeh - Das Chaos im Mittleren Osten und darüber hinaus ist geplant
  Avi Shlaim - Israels Krieg gegen Hamas – Gerede und Wirklichkeit
  Eric Margolis - David gegen Goliath in Gaza
  Paul Craig Roberts - Für die Palästinenser ist jeden Tag Kristallnacht
  Eric Walberg - BDS 2010: mächtiger als das Schwert
  Paul Craig Roberts - Warum keine lähmenden Sanktionen gegen Israel und die Vereinigten Staaten von Amerika?
  Philip Giraldi - Netanyahus Kriegsverbrechen
  Ira Chernus - Israelische Soldatinnen brechen das Schweigen
  Janan Abdu - Frau eines Gefangenen
  Ali Abunimah - Israel ist ein Versagerstaat
  Rannie Amiri - Palästinas brennende Olivenhaine
  Avi Shlaim - Die Vereinigten Staaten von Amerika: der unredliche Vermittler
  Kathleen Christison - Wir haben es euch gesagt!
  >>> Jonathan Cook
  Thalif Deen - Die Vereinigten Staaten von Amerika unter Druck wegen ihrer Beschützerrolle Israels angesichts der Massaker von Gaza
  Larry Derfner - Rütteln am Käfig: Unser exklusives Recht auf Selbstverteidigung
  Yusuf Fernandez - Die Europäische Union und der Krieg gegen Gaza
  Chris Floyd - Unüberwindbare Distanz: Die Entscheidung zu töten
  Mel Frykberg - Israel sperrt palästinensische Friedensaktivisten ein
  Muammar Gaddafi - Rede vor der Generalversammlung der UNO am 1. Oktober 2009
  Neve Gordon - Israels Boykottgesetz – ein historischer Grenzstein
  Yossi Gurvitz - Angriff auf Schafe
  >>> Ran HaCohen
  Conn Hallinan - Iran, Israel und die Vereinigten Staaten von Amerika: Schlittern in den Krieg
  Jeremy Hammond - So einfach ist der israelisch-palästinensische Konflikt
  Julie Hollar - „Gesetzestreue” Israelis, „widerspenstige” Palästinenser
  John Kozy - Israel – nur eine weitere unglückselige britische Kolonie
  Melkam Lidet - Die Realität in Palästina ist so krank, dass es jede Vorstellungskraft übersteigt
  Oded Na'aman - Die Kontrollstelle
  William Pfaff - Die Wahrheit über amerikanische und israelische Interessen kommt ans Licht
 
  TTIP / TISA - aktuelle Informationen aus der Bloggerszene  
  Im ARCHIV finden Sie immer interessante Artikel!  
  Die Weiterverbreitung der Texte auf dieser Website ist durchaus erwünscht. In diesem Fall bitte die Angabe der Webadresse www.antikrieg.com nicht zu vergessen!  
  <<< Inhalt